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Kirschbaumer Hof / Kirschbaumer Straße

Kirschbaumer Hof
Um 1908   Kirschbaumer Hof
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen
 
Die Wiege der "Klarmacher"
Kirschbaumer Hof (Max Schmidt, 1925)
Genealogisches
Die Teufelsinsel
Randbemerkungen: RÜB / RBF / RRB



Eigentlich eher zufällig bin ich zum Kirschbaumer Hof geraten, nicht weit von der Lutherkirche: nördlich der Katternberger und westlich der Friedrichstraße. Irgendwann wollte ich mir das, was vom Kirschbaumer Hof übrig geblieben ist, einmal ansehen. Schließlich habe ich frühe Vorfahren namens Kirschbaum (Linie "Zum Kirschbaum") in meiner Ahnentafel. Aber ich hatte nicht erwartet, so nahe an der Innenstadt noch etwas Altes zu finden, und hatte es daher nicht so eilig. Wie überrascht war ich, als ich auf die Fachwerk-Häuschen stieß. Dass hier früher wenig Wohlstand geherrscht hat, sieht man ihnen an; heute sind manche ansprechend restauriert.

Der Name Kirschbaum war im 17. Jh. bei den Bruderschaften der Schwertschmiede sowie der Härter und Schleifer vertreten. Er kommt auch heute in Solingen häufig vor. Die Linie der Schwertschmiede soll allerdings bereits Mitte des 17. Jh. ausgestorben sein.

Ortsbezeichnungen "Kirschbaum" waren - so mein noch unüberprüfter Eindruck - in Solingen mehrfach vorhanden. Sie können sich durch Ansiedlung der Familie Kirschbaum gebildet haben. Der Kirschbaumer Hof könnte aber die "Urzelle" der Familie gewesen sein; immerhin wird er bereits 1488 genannt.

Um das am Seitenanfang abgebildete alte Fachwerkhaus an der Kirschbaumer Straße, das in den 1920er Jahren abgerissen wurde, und die Scherenaugenpliester, die darin tätig gewesen sind, geht es in dem folgenden Zeitungsartikel. Er erschien 1950 anlässlich der bevorstehenden Einweihung der neugestalteten uralten Brunnenanlage im Kirschbaumer Hof.

  Pliesten = Blankmachen (Feinschleifen) der Stahlwaren.

  Beim Klarmachen oder Scherenaugenpliesten wird ein mit Schmirgel beklebter Riemen durch die Augen geführt, um die vom vorhergegangenen Feilen stehengebliebenen Unebenheiten zu entfernen. Der Riemen wird bei jedem neuen Stück abgenommen, das Auge dabei mit einer Mischung aus Öl und Schmirgel bestrichen. [Hardenberg S. 115]


Solinger Tageblatt vom 22. Juli 1950
Beruf verging - alter Brunnen blieb erhalten.

Kirschbaumer Hof - die Wiege der "Klarmacher"

"Um zu erkennen, daß der Kirschbaumer Hof seit Jahrhunderten besteht, braucht man nicht gerade Historiker zu sein, denn einzelne Häuser der Hofschaft tragen in Bauweise und Ausführung unverkennbare Zeichen hohen Alters. Das in unserem Bilde festgehaltene Gebäude war ein ehrwürdiger Zeuge der Vergangenheit, es wurde ausgangs der 1920er Jahre niedergelegt, ohne baufällig zu sein.

Die beim Bau verwandten Eichenbalken waren im Laufe der Jahrhunderte so eisenhart geworden, daß sie kein Beil zersplittern konnte. Ein beim Abbruch gefundener Schiefer trug die Beschriftung 'ANNO 1438". Ob dies das tatsächliche Baujahr des Gebäudes Kirschbaumer Straße 8/10/12 war, läßt sich mit Bestimmtheit heute wohl kaum noch feststellen."

  Baujahr des abgebildeten Gebäudes war 1438 mit Sicherheit nicht.

"Erhalten geblieben ist jedoch die Erinnerung an den 'Ongerbou', wie das Haus allgemein bezeichnet wurde. In diesem Unterbau wurde jahrzehntelang der Beruf des Scheren-Klarmachens ausgeübt, dessen Wiege aller Wahrscheinlichkeit nach im Kirschbaumer Hof gestanden hat. Die Klarmacher holten ihre Lehrlinge vielfach aus Dormagen, wo sie bereits mit 12 Jahren die Schule verließen. Nach beendeter Lehre wurden sie dann in Solingen seßhaft.

Das Klarmachen als Bestandteil der Scherenfabrikation hat nach dem Weltkriege der rationelleren Arbeitsweise des Augenpliestens Platz machen müssen. Damals mußten die Scheren-Augen grob und fein gefeilt werden, danach wurden sie mit einem glatt polierten Stahl blank, also 'klar' gemacht. Der abgeschliffene und polierte Stahl wurde aus einer alten Feile hergestellt und vor dem Gebrauch in Oel getränkt. Der Fachausdruck in Solinger Platt hieß: 'Met dem Lecker jeleckt'."

  Das Scherenaugenpliesten wurde von Emil Kratz im Dorpskotten am Lochbach entwickelt.

"Waren am Kirschbaumer Hof die Klarmacher zu Hause, so hatten sich weitere Gruppen Solinger Facharbeiter in anderen Hofschaften niedergelassen. In Stockdum gab es 'nur' Schlacht- und Brotmesser-Reider, im Dorperhof Federmesser-Reider, in Hästen und Pfaffenberg Scherenfeiler. Von den ganz alten Scherenfeilern wird sich sicher der eine oder andere noch des Eselsführers Koch, genannt 'Schürger-Koch', entsinnen, der sein Brot damit verdiente, daß er für die Feiler mit dem Eselsgespann die Scheren in den Fabriken ablieferte und neue Ware mitnahm.

Mußten die Kirschbaumshofer Klarmacher auch dem Fortschritt ihren Tribut zollen, so blieb doch ihr Hang am Althergebrachten erhalten. Dieser gipfelte in der gegenseitigen Unterstützung, wie sie der Vorfahren oberstes Gebot war. Besonderes Merkmal ist auch ihre Liebe zu gepflegten Gartenanlagen. Eine solche entstand im Herzen der Hofschaft aus einem 'Dreckberg'. Hand in Hand mit dieser freiwilligen Arbeit ging die Neuanlage des jahrhundertealten Brunnens, der noch nie versagte und den der Aul Kierschboumer Pöttverein am Sonntagnachmittag in einer Feierstunde einweihen will."


Die gepflegte Gartenanlage, von der heute nur wenige Spuren sichtbar sind, war 1925 wohl noch nicht vorhanden. Damals veröffentlichte der Lokalhistoriker Max Schmidt einen längeren Aufsatz zum Thema, der neben Einwohner-Namen auch einige Aspekte des sozialen Lebens umfasst. Manches Detail wird dem heutigen Leser irgendwie bekannt vorkommen, anderes kann angesichts gegenwärtiger Verhältnisse etwas nachdenklich stimmen. Hier ist eine nur wenig gekürzte Wiedergabe des Textes:


Solinger Tageblatt vom 28. Januar 1925

Kirschbaumer Hof

Von Max Schmidt

"[...] Außer den wohlhabenden Höfen [...] gab es auch verschiedene, auf denen sich die ärmere Bevölkerung gewissermaßen zusammenballte. Zu diesen gehörte insbesondere der ehemalige Kirschbaumerhof, der in Anbetracht seiner Eigenart besondere Aufmerksamkeit verdient.

Heute [=1925] ist der ehemalige Kirschbaumerhof in dem städtischen Häusergewirr, das sich in den letzten Jahrzehnten bis weit außerhalb der früheren Grenzen der Stadt Solingen ausgedehnt hat, kaum noch wiederzuerkennen.

Bis vor etwa 80 Jahren [=1845] lag der Hof einsam für sich, von dem Stadtbilde und dem jetzigen Neumarkte etwa 8 Minuten entfernt. Inzwischen sind die Hochstraße [= Am Neumarkt] und die Bergstraße, die zum Stadtinnern gerechnet werden, entstanden, sie führen direkt auf den früheren Hof zu. Die Feldstraße [= Neckarstraße], die Jägerstraße [= Kirschbaumer Straße] und zum Teil auch die vor etwa 30 Jahren ausgebaute Südstraße [= Melbeckstraße], die Stücke des Hofes abtrennten, haben ihm ein verändertes Bild gegeben.

Manches der früheren alten Häuser ist dem Erdboden gleich gemacht worden; und würde die Entwickelung, wie sie einige Jahre vor dem Weltkriege fortschritt, weitergegangen sein, so würde wahrscheinlich der alte Hof heute vollständig verschwunden sein. Einige Dutzend der alten Häuser sind uns erhalten geblieben. Aber wer weiß, ob sie nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit auch baufällig werden und ob dann mit ihnen nicht dann die alte Hofstätte, deren Namen der jüngeren Generation kaum noch geläufig ist, vollständig verschwindet.



Die Häuser

Die wenigen alten Häuser zeigen dem denkenden und aufmerksamen Beschauer, daß sie einen anderen Typ darstellen wie jene bergischen Schiefer- oder die noch älteren Lehmfachhäuser mit den weißgetünchten Giebeln.

Vor einigen Jahrzehnten, als der Hof noch mehr als heute vor dem Vordringen der Stadt verschont war, trat es noch mehr in Erscheinung, daß der Kirschbaumerhof gegenüber den anderen Höfen in der Umgebung der Stadt seine Eigenarten hatte. Keines seiner Häuser stand in einem schmucken grünen Obstgarten oder gar in einem Hausgarten, wie dies sonst auf den Hofstätten um Solingen Brauch war. Die grüne blühende Umrahmung fehlte. Im Gegensatz zu den anderen Hofstätten, wo zwischen den einzelnen Häusern eine gewisse Entfernung bestand, die den Wohnungen Licht und Luft gewährte, war dort fast alles dicht aneinander gebaut.

An den Häusern selbst fehlte die zierliche Schieferbekleidung; sie war meist durch grobe Holzverschalung ersetzt. Nur wenige Bauten waren höher als 1 1/2 Stock. Im Innern kannte man nicht die geräumige Diele, die im eigentlichen bergischen Hause unentbehrlich war. Ueberhaupt waren sämtliche Räume anders angelegt und dabei so klein und niedrig, daß jene Leute, die dort ihr Heim aufschlugen, bescheidener gewesen zu sein schienen, als jene, die auf den sonstigen Höfen in den als schmuckbekannten Häusern wohnten.

Keines der Häuser weist etwas Besonderes auf, das als Zierat anzusprechen wäre. Alles war bescheiden, wenn man nicht sagen will ärmlich. Auf dem Hofe selbst fehlte der Brandteich, ohne den man sich keinen der anderen Höfe denken kann. Schlicht in eine Uferböschung eingebaut war der Schöpfbrunnen, der in seiner Herrichtung auch von den Brunnen anderer Hofstätten abwich.

Anders waren auch die vor dem Hofe parallel aneinandergereihten Gärten der Hofeingesessenen gehalten. Hier fehlte der Schmuck, den man sonst allenthalben in unserer Gegend in den Gärten fand.



Kirschbaumer Hof
2006   Kirschbaumer Straße
 
Kirschbaumer Hof
2006   Altes Fachwerk in Ständerbauweise mit kleinen Fenstern unter dem Dach. So wurde im 17. Jh. gebaut.


Die Bewohner

Aber nicht nur Haus und Garten wichen ab von den anderen Höfen in der Umgebung der Stadt, sondern auch die Bewohner selbst. Sie, der katholischen Kirchengemeinde Solingen seit deren Gründung angehörend, lebten vielleicht infolge der konfessionellen Reibungen mehr für sich. Ein anderes Familienleben bildete sich heraus, mit anderen Sitten und Gebräuchen. Auch brachten die Kriegswirren der früheren Jahrhunderte Neuansiedler auf den Hof, die immer wieder neue Sitten mitbrachten, die sie später beibehielten.

Für die Seßhaftigkeit der Bewohner des Hofes zeugt es, daß einzelne Familien seit nun bald drei Jahrhunderten dort ansässig sind. Das erste Tauf- und Copulationsbuch der St. Clemens-Pfarre nennt wiederholt die Familien

Röhrig, Müller, Kemper und Oelsiepen,

deren Nachkommen noch in unserer Zeit auf dem Hofe ansässig sind. Etwa 100 Jahre später finden wir die Namen

Dresen, Posberg, Lamberts usw.

Auch Träger dieser Familiennamen sind heute oder waren wenigstens vor einigen Jahren noch in Kirschbaum ansässig.

Wohl die älteste direkte Nachricht, die wir vom Kirschbaumerhofe haben, wird jene sein, die das Altenberger Zehntenverzeichnis (veröffentlicht von Albert Weyersberg Z.d.B.G. Jahrg. 1922) aus dem Jahre 1488 uns übeliefert hat."

  Etwas neuere Bearbeitungen von Hans Mosler: Urkundenbuch der Abteil Altenberg, II. Band 1400 bis 1803, Düsseldorf 1955; sowie Altenberg. Neustadt an der Aisch 1959.

"Fast ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß damals auf dem Hofe noch verschiedene Familien wohnten, die noch keinen Familiennamen führten. In jenem Verzeichnis wird ein Hermanus Snaden zu Kirschbaum als abgabenpflichtig genannt. Snaden scheint aber kein Familienname zu sein, denn im Mitteldeutschen bedeutet Snaden nichts anderes als das mittlere Saatfeld. In unserer Zeit ist 'Schnad' als die Bezeichnung für die Mitte eines Streifens noch gebräuchlich, so die 'Schnad' beim Kegelspiel."

  Trotzdem kann es ein Familienname gewesen sein. - Noch in einem Solinger Hebbuch von 1683-1684 sind Steuerpflichtige mit und ohne Familiennamen bzw. nur mit der Wohnortbezeichnung eingetragen.

"1595 wird der Johann (also auch ohne Familiennamen) zu Kirschbaum als abgabenpflichtig genannt.

Die Ortsbezeichnung Kirschbaum ist übrigens bedeutend älter als der in und um Solingen so häufig vorkommende Familienname Kirschbaum. [...] Hier mag bemerkt werden, daß die Familie Kirschbaum in den Jahren 1640/45 als Schwertschmiedefamilie ausgestorben ist (nach mir von Herrn Albert Weyersberg gemachter Mitteilung). In den Ambachtsbüchern der Solinger Bruderschaften werden im Jahre 1623 als 'Schleifer und Herter' Ambachtsgenossen genannt:

Zielis Kirschbaum, Wilhelm Kirschbaum, Johann von Wilhelm Sohn, Peter Kirschbaum und Johann der Große Kirschbaum.

Sie wohnten aber sämtlich nicht zu Kirschbaum, sondern wahrscheinlich hatten sie sich bereits zu Kirschbaumshöhe [~ Schützenstraße] ansässig gemacht.

  In den privilegierten Handwerken der Solinger Industrie vertretene Namen

In den alten Lageplänen werden die Talgründe und Bergabhänge, die außerhalb der Stadt lagen, als 'Sohle' bezeichnet. In der Kirschbaumer Sohle wohnten im Jahre 1702:

Johann Bahlenbrok, Johann Pöter, Wilhelm Hindrichs, Dres Kirschbaum.

(Wahrscheinlich ist aus diesem Dres [Kurzform von Andreas?] der Name Dresen entstanden, der sich im Laufe der Zeit vielfach verändert zu Kirschbaum wiederfindet und zwar als Dreser, Dreseler, Drese usw. Auch die Nachkommen dieser Familie wohnten bis vor einigen Jahren zu Kirschbaum, und zwar hatte die Familie seit bald 2 Jahrhunderten dasselbe Haus, eines der ältesten inmitten des Hofes inne).

Es werden weiter damals als Bewohner des Hofes und als schatzabgabenpflichtig genannt:

Clemens Kirschbaum

(wahrscheinlich entstand aus diesem Zweige der Name der Familie Clemens, die auch lange Jahrzehnte in Kirschbaum ansässig war),

Abraham Lüttringhausen, Johann Melchers,
Heinrich Beres, Scheidemacher und Wilhelm Kirchhofs Wittib
.

Im Jahre 1790 hatte der Hof an Einwohnerzahl wieder zugenommen. Es werden 19 Besitzer als schatzpflichtig genannt, die ähnlich der jetzigen Grundsteuer zu der Landabgabe herangezogen waren. In diesem Jahre wurde ein Unterschied gemacht zwischen dem Haupthofe und dem Sohlhofe. Der Haupthof ist ungefähr da zu suchen, wo die jetzige Jägerstraße [südl. Kirschbaumer Straße] in das geschlossene Hofgelände einmündet.

Die Besitzer auf dem Hofe hatten den Lichtmeßschatz, den Maischatz und den Herbstschatz zu entrichten. 1832 nennt das Gebäudeverzeichnis des Hofes 41 Wohnhäuser, eine Zahl, die sich im folgenden Jahrzehnt noch um einiges erhöhte. Wenn man bedenkt, daß zu damaliger Zeit an die Wohnungsverhältnisse bei weitem nicht die Ansprüche gestellt wurden wie in unserer Zeit, so kann man sich in etwa ein Bild davon machen, wie groß die Einwohnerzahl gewesen sein muß."

  Die Steuern, vielfach auch Schatz genannt, wurden meist an drei Terminen im Jahr erhoben. Es gab die Steuer zu Lichtmeß (2. Februar), die Maischatz am 1. Mai und die Herbstschatz zu Andreas (30. November).



Eigenarten der Bewohner

"Wie ist die Entwickelung des Hofes und wie ist die Eigenart seiner Bewohner zu erklären? In der Geschichte müssen wir die Lösung suchen. Ich habe bereits angeführt, daß die Einwohnerschaft ausschließlich der katholischen Kirche angehörte. Es wird vieles erklärlich, wenn wir hören, welchen Einfluß die Kriegswirren früherer Zeiten gehabt haben. Kein Bezirk in gleicher Größe wird ähnlich wie der Kirschbaumerhof unter den Kriegswirren zu leiden gehabt haben.

Der siebenjährige Krieg [1756-1763] und besonders die Franzosenzeit brachten überaus schwere Einquartierungslasten. [...]
Im Mai 1760 wurden für längere Zeit französische Husaren des Generals Turvin zu Kirschbaum einquartiert.
1761 kamen mehrmals Truppen des Fischer'schen Freikorps,
im Juni 1793 hessische Truppen, die in englischem Solde standen,
1794 und 95 Oesterreicher und
im Dezember 94 Kroaten vom Regiment Jellachini, über die am schlimmsten geklagt wurde.

Die Einquartierungen hörten bis weit in das 19. Jahrhundert hinein nicht auf. Von jenen Truppendurchzügen blieben zuweilen Leute zurück. Und auch der Kirschbaumerhof erhielt hierdurch Neuansiedler. Vielleicht wurde gerade dieser Hof zur Ansiedlung gewählt, weil man dort schon einen größeren Kreis von Glaubensgenossen fand; denn immer ist festzustellen, daß die hinzugezogenen Familien aus jener Zeit sich zum katholischen Glauben bekannten.

Diese Fremdlinge, wenn man sie so bezeichnen soll, haben ihre Sitten und Gebräuche beibehalten. Sie werden aber auch dazu beigetragen haben, daß man lange Zeit, bis in das 20. Jahrhundert hinein, die Bewohner des Hofes nicht überall in der Stadt gerne sah, weil sie als rauflustig und streitsüchtig bezeichnet wurden. Wenn man sich die Vergangenheit vergegenwärtigt, und bedenkt, daß das Kriegsvolk früher noch rauher war als heute, und vielleicht die lange Einquartierung noch mehr demoralisierend wirkte, so ist es erklärlich, wie diese Eigenschaften (die auch vielleicht noch etwas angedichtet waren) sich herausbilden konnten.

  Dies wurde offenbar in einer zivilisierten Zeitperiode geschrieben, in der sich der Autor rauhe, rauflustige und streitsüchtige Sitten gar nicht recht vorstellen konnte.



Geselliges Leben

Das Zusammenleben der Hofesfamilien unter sich war geradezu vorbildlich. »Die Bewohner«, so wurde von den Städtern und Nachbarorten gesagt, »halten zusammen wie die Kletten.« Die meisten Familien waren in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts unter sich verschwägert oder doch verwandt. Das Bild des Zusammenhaltens zeigte sich auch im geselligen Leben.

Wie schon gesagt, stellte der Hof der katholischen Kirche einen treuen Stamm. Dem ältesten Vereine der Kirchengemeinde, der St. Sebastianus Schützenbruderschaft, stellte der Hof einen ebenso treuen Stamm an Mitgliedern, die aber dem Vereine mit ihren Sonderwünschen oft viel zu schaffen machten. Jahrzehntelang feierten die Kirschbaumer das alte Schützenfest noch um einen Tag länger als der Verein selbst, und zwar auf ihrem Hofe. Hingen die Kirschbaumer auch mit Leib und Seele an dem Verein, so hingen sie ebenso fest an ihrer Kompagnie, die lange Zeit einen Verein im Vereine bildete, in früherer Zeit sehr oft Anwartschaft auf den Schützenkönig geltend machte und diesen auch oft stellte.

Auch im anderen geselligen Leben machte sich der Hof selbständig. Er hatte lange Zeit seinen eigenen Gesangverein, seinen Musikverein, seinen Rauchklub und auf sozialem Gebiet seine Kranken- und Sterbeauflage, die gegründet worden war auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, so daß jeder sein Scherflein dazu beitragen mußte, wenn bei dem anderen die Not einsetzte. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat nicht allein die Grenzen des Hofes verwischt, sondern auch den Vereinen sämtlich die Lebensmöglichkeit genommen.

Neben diesen Eigenarten hatte man an gewissen Tagen des Jahres öffentliche Veranstaltungen, die man anderswo nicht kannte. Zum St. Seb.-Schützenfest war der Hof bezw. ein jedes Haus mit Waldesgrün und mit bunten Bändern aller Art geschmückt, die einen bunten Anblick boten, wie man ihn sonst nirgendwo gewöhnt war. Im Herbst wurde ein Herbstfest und im Mai das Maifest gefeiert, bei dem der Maibaum, meist eine große, buntgeschmückte Birke, nicht fehlte. Unter diesem Baume fand dann am Abend das Fest statt, das die Ortsbewohner zusammenführte und bei dem besonders die Jugend sich dem Frohsinn und dem Tanze hingab.

Eine für unsere Gegend einzigartige Sitte und für Kirschbaum eines der Hauptfeste war aber am Aschermittwoch. An diesem Tage wurde der Lazarus beerdigt (begraben), ähnlich wie man in Süddeutschland Fastnacht oder Kirmes zu Grabe trägt. Man legte eine Strohpuppe, die man mit Mannskleidern versehen hatte, auf eine Bahre und trug sie hinaus auf jenes Feld, wo sich jetzt die Goethe-, die Herderstraße usw. befinden. Die Erwachsenen wie die Kinder nahmen an dieser Veranstaltung teil. Der 'Pfarrer' wie der 'Totengräber' gingen dem Zuge im 'Ornat' voran, und auf dem Gelände der 'Teufelsinsel', wie es heute noch im Volksmunde heißt, wurde die Puppe und damit die tollen Tage unter dem Gesang von Liedern (teilweise mit geradezu zotigem Text) begraben, worauf man zu der ernsten Fastenzeit überging.

Für die Kinder war der Tag besonders festlich; hatte man doch vorher Geld gesammelt, um die Jugend mit Gebäck und sonstigen Sachen bewirten zu können. Wer am meisten sang, wurde bei der Bescherung auch dementsprechend bedacht.

Die Polizei sah die Veranstaltung als groben Unfug an und hat jahrelang versucht, die Veranstaltung zu unterdrücken. Mehrmals sind die Teilnehmer des Aufzuges bestraft und auch der Lazarus beschlagnahmt worden. Die Polizei hat die Sitte, die wahrscheinlich mit den Fremdlingen, die sich in den Kriegszeiten der vergangenen Jahrhunderte in Kirschbaum niederließen, nach hier verpflanzt worden war, in jahrzehntelangem Kampf nicht ausrotten können. Was sie nicht konnte, hat die neuzeitliche Entwicklung dagegen etwas später in wenigen Jahren zu Wege gebracht.

In den letzten Jahrzehnten hat der Hof in seinem Aeußeren wie im Innern ein anderes Bild erhalten. Die neue Zeit würfelt das Volk wieder scharf durcheinander. Sonderheiten und Eigenarten werden hierdurch immer mehr verwischt. Vor dem Alten macht die Entwicklung nicht halt. Dem Alten sollte man jedoch insoweit Schonung entgegen bringen, als man dafür sorgt, daß die Geschichte und Werdegang unserer Gegend in Wort und Schrift unseren Nachkommen erhalten bleibt."


  Bedenkenswerte Worte. Was würde Herr Schmidt sagen, könnte er aus dem Abstand seiner Zeit unsere durcheinandergewürfelte Gegenwart beobachten?




Genealogisches

  • 1693 Taufe IX.262 Johannes Kirschbaum,
    Sohn von X.524 Johannes Kirschbaum und IX.525 Christina Vahlenbrach.
  • 1723 Taufe VIII.131 Catharina Kirschbaum,
    Tochter von IX.262 Johannes Kirschbaum und IX.263 Gertrud Köster.
  • Zwischen 1720 und 1737 ist bei der Geburt ihrer gefundenen 5 Geschwister, alle getauft in Wald, als Wohnort der Eltern "Zum Kirschbaum" angegeben.
  • Um 1744/45 VIII.131 Catharina Kirschbaum , Heirat mit VIII.130 Henrich Hartkop 'Zum Scheid'.


Handwerkszeichen
 
Schlüssel,
Handwerkszeichen des Klingenschmiedes
Johannes Kirsbaum (Kirchmeister 1581/82)



Die "Teufelsinsel"

Auf der sog. Teufelsinsel begruben die Bewohner der Hofschaft Kirschbaum am Aschermittwoch ihren 'Lazarus'. Mit 'Teufelsinsel' bezeichnet(e) der Volksmund lt. Günther das heute von der Goethe-, Herder-, Wieland- und Raabestraße begrenzte Gelände. Zwar fließt dort der Nacker Bach, aber die Teufelsinsel ist nicht von Wasser umgeben. Warum also dieser Name, der noch gar nicht so alt ist? Wer es nicht weiß, der wird kaum darauf kommen:


Solinger Tageblatt vom 7. August 1937

"[...] In jener Gegend befand sich ehedem eine große Weide, die dem Viehhändler Wiedenhöfer gehörte. Dort war der Schauplatz der 'Schlachten' zwischen den Jungens von Heidberg und der Katternberger Straße, wobei die 'Bre-it Beek' im Tal die heißumkämpfte Grenze bildete. Gegen Ende der neunziger Jahre [=1890er Jahre] wurde das erste Haus auf dem Wiesengrundstück gebaut, das keinen richtigen Zugang hatte, so daß die Baustoffe nur mit Schwierigkeit herangeschafft werden konnten.

Um jene Zeit war der Dreyfus-Prozeß in aller Munde, bei dem der französische Artilleriehauptmann (der allerdings später freigesprochen, als Major ins Heer eingestellt und zum Ritter der Ehrenlegion ernannt wurde) zu lebenslänglicher Verschickung nach Cayenne, eben der 'Teufelsinsel', verurteilt worden war. Als nun auf dem genannten, von allem städtischen Verkehr abgelegenen Gelände ein Haus entstand, prägte der Volksmund mit Bezug auf den Eigentümer das Wort: »Dä is ouch op de Döuwelsinsel verbannt worden.« Und diese Bezeichnung hielt sich bis heute."

[Julius Günther]


  Dreyfus, Alfred (1859-1935), jüdischer Offizier im französischen Generalstab, 1894 wegen angeblichen Landesverrats unschuldig verurteilt zu Degradation und lebenslänglicher Deportation. 1906 rehabilitiert aufgrund des Einspruchs freisinniger Kreise.




Randbemerkung: RÜB / RBF / RRB

Die Landschaft südlich der Kirschbaumer Straße hat sich längst verändert. Durch die gewaltige Baumaßnahme im Nacker Bachtal soll das 1995 in Betrieb genommene Regenüberlaufwerk (RÜB) Heidberg auf den neuesten technischen Stand des Gewässerschutzes gebracht werden.

  Im Rahmen der Veranstaltung "Solingen 24 h live" konnten im September 2006 mit fachkundiger Aufklärung die Hintergründe der Veränderungen in Augenschein genommen werden. Bei der Besichtigung des unterirdischen RÜB zeigte sich, dass es nach ganz ähnlichen Grundprinzipien funktioniert wie die Stauanlagen der "alten Solinger Bach-Schleifer" mit Flutgraben und Flutschütz.

Im Solinger Tageblatt vom 02.11.2004 war zu lesen: "Die von dort [RÜB] bei starkem Regen kommenden hohen Spitzen an Mischwasser-Input werden bald von acht Kubikmetern pro Sekunde auf 600 Liter pro Sekunde gedrosselt [...]. Die Bodensanierung auf Höhe des neuen Filterbeckens (im alten Klärteich lagerte giftiger Schleifsand [...]) führte 25 000 Tonnen belastete Erde geregelter Deponie-Entsorgung zu." - Bis 1934 soll hier noch der Ernenkotten (Heidberger Kotten) in Betrieb gewesen sein. [Lunkenheimer S. 109]

Im September 2006 ist das Tal wieder grün, und das zur biologischen Reinigung des "abgeschlagenen Niederschlags-Wassers" [?] im sorgsam eingezäunten neuen RBF angepflanzte Schilf ist angegangen.



 
September 2004
Großbaustelle im Nacker Bachtal
zwischen Heidberg und Kotterheidberg.

Hinten links das künftige RBF (Retentionsbodenfilterbecken ),
davor das angeschlossene RRB (Regenrückhaltebecken).
Ein etwa 250 m langer Kanal verläuft
vom RÜB Heidberg bis hierher.


Quellen:
  • Hardenberg (1940), S. 115
  • Lunkenheimer (1990)
  • Schmidt, Max: Der Kirschbaumerhof. Solinger Tageblatt vom 28.01.1925
  • Solinger Tageblatt (?) vom 22.07.1950
  • Solinger Tageblatt vom 02.11.2004

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