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Pietismus: Definition und Vertreter

Pietismus bezeichnet eine kirchliche Reformbewegung, die für ein auf persönlicher Heilserfahrung beruhendes Christentum eintritt. Betont wird das Ideal eines an der Bibel orientierten praktischen Christentums, das sich in "lebendiger Frömmigkeit und tätiger Nächstenliebe" (der "praxis pietatis") äußert. Der Pietismus basiert auf regelmäßigem Bibelstudium und der vom einzelnen Christen bewusst erlebten "geistlichen Wiedergeburt". Seine Wurzeln reichen ins 16. Jh. zurück; seine Blütezeit erlebte er Ende des 17. bis Mitte des 18. Jh. Er setzte sich fort in den sog. Erweckungsbewegungen des 19. Jh.

  Als Erweckungsbewegung wird eine Richtung im Christentum bezeichnet, die besonderen Wert auf die Bekehrung des Einzelnen legt und die praktische christliche Lebensweise betont.

Die Bezeichnung "Pietist" entstand durch die von Spener initiierten, "Collegia pietas" genannten Hausbibelkreise.

Bekannte Vertreter des Pietismus sind Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Johann Albrecht Bengel in Württemberg und Gerhard Tersteegen im niederrheinisch-bergischen Raum. - In Barmen-Gemarke und Elberfeld (beide heute Wuppertal) war Pfarrer Friedrich Wilhelm Krummacher (1796-1868) ein entschiedener Vertreter der Erweckungsbewegung und Gegner des Rationalismus.

  Der spätere kommunistische Revolutionär Friedrich Engels äußerte sich übrigens 1839 im "Telegraph für Deutschland" als 18jähriger überaus kritisch gegenüber dem Pietismus und den Pietisten im Wuppertal. [Online nachzulesen z.B. hier:   "http://kpp.aksios.de/klassiker/engels/mo0016.htm"]




Bibelstunden und Gemeindeleben in Haan   (Gottlieb Mutz)

Als die Freie evangelische Gemeinde in Haan 1993 ihr 100jähriges Jubiläum vorbereitete, wurde ich durch eine Anfrage des Gemeindemitgliedes und Buchautors Horst Neeb († 2004) daran erinnert, dass im 19. Jh. eine Verbindung zwischen Familie Mutz und der Gemeinde bestanden hat. Wohl hatte ich früher davon gehört - aber wie war das noch?

  Freie evangelische Gemeinde in Haan

Da ich eigene Vorfahren längst nicht mehr befragen konnte, war ich auf andere Quellen angewiesen. Dem Haaner Geschichtsforscher Harro Vollmar (1929-1989) zufolge hatte sich vermutlich durch persönliche Kontakte des Theologen Tersteegen nach Haan am Nachbarsberg etwa 1748 eine Bibelstundengemeinde gebildet, die sich regelmäßig an Sonntagen traf. Auch der Haaner Pastor Glaser (1860-1942) berichtete, dass es auf dem Nachbarsberg "seit alters" eine sonntägliche Bibelstunde "in freikirchlichem, aber nicht kirchenfeindlichem Sinne" gab, die in der Regel von auswärtigen Stundenhaltern bedient wurde. [Vollmar 1991]

Dieser Bibelstundenkreis, der "ganz in Tersteegens Geist" abgehalten wurde, war Ausgangsbasis für die Gründung der Freien evangelischen Gemeinde Haan im Jahr 1893. Zu den Gemeindegründern gehörte neben dem aus Mettmann stammenden Friedrich Kotthaus (1826-1910) mein Urgroßvater, der Seidenweber Gottlieb Mutz (1839-1912). Friedrich Kotthaus trat übrigens mehrfach als Taufpate der Kinder Gottliebs in Erscheinung.

Mein Großvater Carl Mutz, zweitältestes der neun Kinder von Gottlieb Mutz und seiner Frau Martha geb. Pieper, berichtet von Bibelstunden in der Elp im Hause Stöcker und in Holthausen bei Haan im Haus der Familie Dörner. Laienbrüder, Pastoren und Missionare predigten dort.

Um 1875 verlagerte sich der Kreis aus der Elp teilweise zum Nachbarsberg, der für die Haaner aus dem Dorf näher lag. Dort stellte Gottlieb Mutz sein Haus für die Gottesdienste zur Verfügung. Auch nachdem 1899 in der Ellscheider Straße ein Gemeindehaus für etwa 350 Personen gebaut worden war, fanden auf dem Nachbarsberg noch eine Zeitlang Sonntagsnachmittags-Versammlungen statt.


Nachbarsberg 35
 
Im Haus Nachbarsberg 35
(links; inzwischen sehr verändert)
wurden Bibelstunden abgehalten.

Bild-Quelle: Stadtarchiv Haan


Wiedenhof 2
 
Später wurden die Bibelstunden
in dieses Haus am Nachbarsberg 8
(heute Wiedenhof 2) verlegt,
das mein Urgroßvater um 1877 erbaute.
 


Altes Gemeindehaus der Freien ev. Gemeinde Haan
 
Das 1899 erbaute Gemeindehaus
der Freien ev. Gemeinde
an der Ellscheider Straße
(1980 an gleicher Stelle durch
einen Neubau ersetzt).

Bild-Quelle: Stadtarchiv Haan


Ev. Vereinshaus
 
1980
Evangelisches Vereinshaus
an der Alleestraße

Einzelheiten dazu habe ich in älteren Bibelaufzeichnungen meines Großvaters Carl Ludwig Mutz gefunden. Darunter befindet sich ein Hinweis darauf, dass schlimme "Verfehlungen" gegenüber Kindern, von denen seit Anfang des Jahres 2010 verstärkt in den Medien die Rede ist, auch früher und auch bei evangelischen Pfarrern vorkamen.


Carl Ludwig Mutz, Haan 1937

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden in der Elp bei Haan bei der, oder im Hause der Familie Stöcker, auch wohl mal in Holthausen bei Haan im Hause der Familie Dörner, Bibelstunden von Laienbrüdern u. Pastoren, auch von Missionaren u. Zöglingen aus Barmen gehalten. Den beiden Pastoren Müller (1826-1873) u. Pieper (1836-1850) aus Mettmann hat mein Großvater Wilh. Pieper aus Mettmann (1809-1892) oft das Geleit dorthin gegeben, ebenso auch Laienbrüdern von dort. -

Das biblische Evangelium soll dazumal in Haan nicht in besonders "lebensweckender" Weise auf dem Leuchter gestanden haben, daher das Kommen auswärtiger Stundenhalter in Häusern lebendiger Christen. Unter den Laienbrüdern aus Mettmann war der Landwirt Joh. Thienhaus besonders begabt u. hat besonders in den Bibelstunden in der Elp in großem Segen gewirkt. -

Dies alles schreibe ich nach Schriften wie Erzählungen meiner Eltern, besonders der gutunterrichteten Mutter wie auch [von] anderen älteren Verwandten und Bekannten.

In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war in Haan durch oben Genannte eine Erweckungszeit u. viele kamen, besonders durch das Zeugnis von Joh. Thienhaus in der Elp, zum lebendigen Glauben wie zur vollen Heilsgewißheit. Unter diesen war auch
mein Vater mit fast allen Geschwistern, ferner
August Butzmühlen [Pate von Lydia und Anna Mutz] vom Nachbarsberg,
Louis Hussels vom Kamp,
Geschwister Büscher [Amalie Patin v. Anna Mutz] aus Kriekhausen,
Wilhelm Stöcker u.
Familie Schütten (später diese geheiratet in Barmen) aus dem Dorf,
Familie Heidelberg (diese später im Barmer Missionshaus),
Alwine Liefering u.a. aus dem Dorf.

Meine Mutter wohnte in den Jahren bis zu ihrer Verheiratung als Köchin bei einer Familie Henke, Manufakturwarengeschäft, später Hammerstein in dem Hause neben der evang. Kirche, u. nahm regen Anteil an dem christlichen Leben, waren die Haaner Verhältnisse ihr doch langst durch oben erwähnten Vater bekannt.

Auch in ihrem späteren Leben ist sie vielen zum Segen geworden, auch mir. Ihr liebevolles Wesen öffnete ihr schnell und überall die Türen wie Herzen, u. stand sie später auch in diesbezüglicher Fühlungnahme mit Pfr. Glaser in Haan. -

Mitte siebenziger Jahre wurde auf allgemeinen Wunsch, des unfreundlichen Weges halber, die Bibelstunde in mein großväterliches Haus auf dem Nachbarsberg verlegt (später Geschwister Mutz.) [= Nachbarsberg 35] Zuerst war alle 3 Wochen, später alle 2 Wochen Bibelstunde. Meist sprachen Laienbrüder, Stadtmissionare, Missionare aus Barmen, später auch aus Neukirchen, auch Pfarrer.

Der Besuch war meist sehr gut. Kurz vor dem Weltkriege hat sie [die Bibelstunde] dann aufgehört, da von kirchl. Seite eine im Ev. Vereinshaus, u. von der freien Gemeinde eine in deren Vereinshaus eingerichtet worden war. Erstgenannte war aber an Wochentagen. Viele haben auch in den langen Jahren auf dem Nachbarsberg eine, ihre geistige Geburt erlebt.

Das geistige Leben äußerte sich auch nach außen. 1868 wurde in Verbindung mit Pfr. Neinhaus der ev. Männer- u. Jünglingsverein gegründet, 1878 ein Christl. gemischter Chor. [...] Nach all diesem muß man rückblickend bestätigen, daß der Kirchl. Pietismus von Haan sein Quellgebiet in der Familie Stöcker in der Elp hatte.

Schade, daß durch die sittlichen Verfehlungen von Pfr. T******* in Haan, die eine spätere Wiederholung in der folgenden Gemeinde Bielefeld fanden, wodurch dieser, um der Strafe zu entgehen, nach Amerika flüchtete, [F] sich manche ernstdenkende Leute von der Kirche abwandten u. sich Gemeinschaften anschlossen, bezw. sie später mit gründeten.

[F]  Auf der Flucht erhielt mein Vater ein Telegramm von Pfr. T. zu einer bestimmten Stunde im Elberfelder Bahnhof ihn zu treffen. Bei dem kurzen Aufenthalt eines Schnellzuges gestand er meinem Vater u. Herrn Siepen in Reue die Haaner Verfehlungen. In Bielefeld hatte er sich nach späteren Zeitungsnachrichten an Konfirmandinnen vergangen.

Mitte der neunziger Jahre wie auch Anfang dieses Jahrhunderts hat Haan nochmals besondere Erweckungszeiten erlebt, 1905 durch Prediger Dännert aus Barmen, später Neukirchen b. Mörs. -

Anfang der siebenziger Jahre wurde in meinem elterlichen Hause ein Missionsnähverein ins Leben gerufen, der sich jeden Mittwochabend zur Arbeit versammelte. In den neunziger Jahren siedelte er der unfreundlichen Wege halber ins Pfarrhaus von Pfr. Glaser über. Junge Mädchen lernten darin oft manches für später. Soweit ich zurückblicke war alle 2 Wochen Montagabend Gebetstunde, abwechselnd in drei verschiedenen Häusern, auch bei uns. Wann letzteres eingegangen weiß ich nicht, da 1901 durch Heirat nach Ohligs verzogen. - -




Familie Mutz in Gruiten und Haan

Darüber, was meinen Urgroßvater Gottlieb Mutz zu seinem Engagement für den Bibelkreis bewogen hat, lässt sich spekulieren: Seine Eltern, der Weber Ludwig Mutz und seine Frau Anna Catharina geb. Breidt ("Tochter eines Boten"), lebten in Gruiten im Doctorshaus. Gottlieb wurde 1839 in Gruiten als viertes von sieben Kindern geboren. Zwischen 1840 und 1845 ist die Familie nach Haan auf den Nachbarsberg umgezogen: Das sechste Kind kam bereits dort zur Welt.

Dieses "Doctorshaus" hatte um 1750 der Gruitener Heilpraktiker "Doktor" Jakob Lauterbach (1713-1773) erbaut. Lauterbach wurde im Weiler Nachbarsberg in Haan geboren. Er siedelte später nach Gruiten um und praktizierte dort. Der zeitweise in Elberfeld tätige Arzt und Schriftsteller Jung-Stilling (Prof. Dr. Johann Heinrich Jung, 1740-1817) soll Jakob Lauterbach in Gruiten besucht und ihm in seinem Roman "Theobald oder die Schwärmer" in der Person des Arztes Rosenbach ein Denkmal gesetzt haben [Vollmar, Breidbach]. Sowohl Lauterbach als auch Jung-Stilling waren engagierte Vertreter des christlichen Pietismus.

Gottliebs Vater Ludwig Mutz war, wie auch die früheren Generationen Mutz, in Wald geboren (1811), dessen jüngere und ältere Geschwister aber auf dem Nachbarsberg in Haan. Ludwigs Mutter, Anna Gertrud geb. Dörner (1774-1815), stammte vom Nachbarsberg. Hier lebte zeitweise auch sein Vater, der Messerreider und Schleifer Johann Abraham Mutz (1780-1853).

Die pietistische Prägung wird also schon Generationen früher in die Familie Einzug gehalten haben. Meine Ahnen Johann Gottfried Dörner (1744-1814) und seine Frau Maria Christina geb. Keusenhof (1747-1790), Eltern von Abraham Mutz' Ehefrau Anna Gertrud Dörner, lebten "Aufm Berg" oder "Nabersberg", wie es damals hieß [= Nachbarsberg], ebenso die Eltern von Maria Keusenhof, Johann Peter Keusenhoff und Margaretha geb. Elscheid (Heirat 1738 in Haan). Damit gelangen wir in die Wirkungszeit von Lauterbach und Tersteegen, von denen weiter unten noch die Rede ist.


Doctorshaus
 
2002
Das Doctorshaus
in Gruiten



Erweckungslehre in Wald  -  Familie Weck

Auch in Solingen und Wald fanden Versammlungen statt, so z.B. bei dem Chirurgen und früheren Schleifer Wilhelm (?) Weck in Obenitter, der 1710 durch Hochmann von Hohenau zu seinem Glauben gekommen sein soll. Ernst Christian Graf Hochmann von Hohenau, "der gewaltigste Reiseprediger seiner Zeit", hatte 1710 in Gräfrath und Solingen gepredigt. [Rosenthal 2. Bd. S. 30]

Wie Horst Neeb anhand eines Protokolls aus dem Jahr 1740 in Verbindung mit genealogischen Nachforschungen ausführt, handelt es sich bei diesem "Weck" allerdings mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um Henrich Weck und nicht um Wilhelm Weck. Ein Henrich Weck, Sohn von Friedrich Weck, wurde am 13.10.1682 getauft, wohnte in Wald "in der Itter", war verheiratet, begütert und von Beruf Schleifer sowie appr. Chirurg. [Neeb 1997 S. 240]

In seinem Buch "Em Wauler Dorp" berichtet Rosenthal über den separatischen Pietisten und Wiedertäufer Johann Lobach, Sohn des 1702 verstorbenen Walder Schwertschmiedes Peter Lobach, zu dessen Kreis die Familie Weck gehörte. Möglicherweise zählten auch Angehörige der Familie Mutz dazu.

"Zu Johann Lobachs Familienkreis gehörte die Familie Weck auf dem Rolsberg. Von ihr hat sich sein Schwager Wilhelm Weck der Ältere hervorgetan, indem er in seinem Hause in Obenitter Erbauungsversammlungen hielt, woran sich die Gesinnungsfreunde aus Barmen, Elberfeld und Solingen beteiligten. Und Wilhelm Weck d.J. (1714-1789) ist sowohl durch eine Stiftung für die armen Walder Schulkinder zu nennen, wie auch als Herausgeber von Gerhard Tersteegens Briefen und wegen seiner regen Teilnahme am pietistischen Leben.

Er hat die Lebensgeschichte seines Onkels Johann Lobach beschrieben, einen Epilog auf Gerhard Tersteegen verfaßt und sein eigenes Lebens- und Sündenbekenntnis in einem langen Gedicht hinterlassen. Er hat die reiche Holländerin Anna Oudam (gest. nach 1786) zu einer Stiftung von 1000 Gulden für arme Schulkinder in den Walder Honnschaftsschulen veranlaßt. Seine geistlichen und wohl auch seine geschäftlichen Verbindungen reichten von Holland bis in die Schweiz, und sein Haus auf dem Rolsberg war eine Durchgangsstation frommer Männer auf ihrem Wege zu Tersteegens Pilgerhütte auf der Otterbeck bei Heiligenhaus." [Rosenthal 1967 S. 37]

Damals lebten meine Vorfahren Mutz in Wald - ebenso wie Familie Weck - in der "Itter", und zuvor, wie auch Familie Weck, "zum Feld". Auch auf dem Rolsberg erscheinen beide Namen. Verbindungen zwischen beiden Familien waren mehrfach vorhanden. Familie Mutz könnte also bereits in Wald mit der Erweckungslehre in Berührung gekommen sein und brachte ihre Glaubensrichtung wahrscheinlich schon auf den Haaner Nachbarsberg mit.


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Jacob Lauterbach, Heilpraktiker in Gruiten (18. Jh.)

Hermann Banniza skizziert in einem Aufsatz die Person des oben schon erwähnten Gruitener Mediziners Jakob Lauterbachs:

"Lauterbach wirkte als Heilpraktiker, der sich - wie so mancher seiner Zeitgenossen - autodidaktisch gebildet hatte. Er erhielt einen außergewöhnlichen Zulauf und wurde weit bekannt. [...]

Am 11. April 1713 wird Jakob als Sohn der Eheleute Johannes Lauterbach und Sophie Bollenheid in Haan getauft. 1723 stirbt der Vater und zwei Jahre später Jakobs Schwester. In ihrer Todeseintragung wird auch die Mutter als bereits verstorben bezeichnet. Jakob ist früh Vollwaise. Zu seinen nahen Haaner Verwandten gehören u.a. 'Friedrich Lautherbach auffem Nabersberg' sowie die Pächter und Wirt 'Jürgen Lauterbach auffer Straßen' mit ihren Familien. [...]

Mit 30 Jahren hat Lauterbach bereits einen guten Ruf als Laienmediziner. So stellt die Reformierte Gemeinde Hilden 1743 einem Bedürftigen einen 'Schein an Jacob Luterbach zu Gruiten' aus, 'um demselben nöthige Artzeneymittel zu seiner genesung mitzutheilen'.

Im Mai 1743 vermählt sich Lauterbach in Ratingen mit Irmgard Zassenhaus (1720-1774), Tochter des Landwirtes Peter Zassenhaus und der Christina Thomashoff. Von 1744 bis 1765 werden dem Ehepaar in Gruiten zehn Kinder geboren. 1750 wohnt er noch 'aufm Grunder Kämpgen'. Vermutlich wenig später errichtet Lauterbach sein großes Haus mit Praxisräumen und eigener Apotheke (Baudenkmal Doktorshaus, Heinhauser Weg 27).

Den Apothekendienst versieht Johann Peter Krieckhaus, der 1859 stirbt. Nach 1760 ist ein Landmesser aus dem Amt Miselohe als Apotheker bei Lauterbach beschäftigt.

In den Taufeintragungen für Lauterbachs Kinder werden ab 1752 dem Namen des Vaters die Bezeichnungen 'Medicus' bzw. 'Doctor' vorangestellt. Lauterbach selbst unterschreibt 1762 ein Verhandlungsprotokoll ohne Verwendung eines Doktortitels.

Als Mitglied des Konsistoriums nimmt Lauterbach regen und manchmal eigenwilligen Anteil am Leben seiner Kirchengemeinde. Wie bei Christlich-Intellektuellen des 18. Jahrhunderts nicht selten, schreibt auch er den Versuch nieder, unter Bezug auf historische Begebenheiten eine Teilerfüllung der Offenbarung Johannis aufzuzeigen. Spätestens seit 1738 gehört er zum Freundeskreis des Erweckungspredigers und Liederdichters Gerhard Tersteegen (1697-1769), der auch im Niederbergischen viele Anhänger hat. In mehreren Briefen, die Tersteegen bis 1760 an verschiedene Adressaten sendet, erwähnt er 'Bruder Lauterbach' und sein medizinisches Wirken. Nicht immer ist Tersteegen - er betätigt sich nebenbei ebenfalls als Heilpraktiker und Apotheker - mit Lauterbachs Behandlungsmethoden einverstanden, dennoch lobt er dessen Können.

Die Reformierte Gemeinde Wald richtet 1763 ein Armenhaus ein, und Lauterbach spendet hierfür beachtliche 225 Taler.

Kurz vor seinem 60. Geburtstag stirbt Lauterbach infolge einer Erkrankung. Ein Jahr danach, am 10. März 1774, wird »des Herrn Doctor Jacob Lauterbach seine hinterlassene Ehefrau Irmgard Zassenhaus« zu Grabe getragen.

Über das Verhältnis Lauterbachs zum Collegium Medicum in Düsseldorf, der Aufsichts- und Genehmigungsbehörde für alle in den Herzogtümern Jülich und Berg medizinisch tätigen Personen, ließen sich keine Akten ermitteln. Da der Autodidakt Lauterbach von akademisch ausgebildeten Ärzten als Pfuscher, Quacksalber, Afterarzt und Harnprophet bezeichnet wurde und trotzdem drei Jahrzehnte öffentlich praktizieren konnte, dürfte er eine Sondererlaubnis zur Berufsausübung erhalten haben oder diese zumindest geduldet worden sein."

[Banniza 1998/99 S. 7 f]


Jung-Stilling: Theobald oder die Schwärmer
Jakob Lauterbach und die Romanfigur des Arztes Rosenbach

Die Figur des pietistischen Kräuterheilers und Arztes Rosenbach in dem 1784/85 erschienenen Roman "Theobald oder die Schwärmer" von Jung-Stilling soll auf den Heilpraktiker Jakob Lauterbach zurückgehen, der in Gruiten im "Doctorshaus" lebte und praktizierte. Dazu schreibt Hermann Banniza:


"Am 14. Juli 1877 erschien in dem in Hilden verlegten 'Rheinischen Volksblatt für die Kreise Düsseldorf, Solingen und Mettmann' ein kurzer Aufsatz: »Der berühmte Doktor zu Grüten«. Hierin wurde erstmals festgestellt, Lauterbach sei mit dem 'Arzt Rosenbach' aus dem Dorf 'Ederthal' identisch, der in Jung-Stillings Roman 'Theobald oder die Schwärmer' (1. Bd., Leipzig 1784) eine wichtige Rolle spielt, und für die biographischen Angaben zu Lauterbach wurden überwiegend Texte aus diesem Roman verwendet.

Geschrieben wurde der Aufsatz - nach Stil und Themenwahl - höchstwahrscheinlich von Franz Wilhelm Oligschläger (1809-10. August 1877). Er war in Haan zum Apotheker ausgebildet worden, wurde Arzt und betätigte sich als Botaniker und Heimatforscher. Von der möglichen Gleichsetzung Rosenbachs mit Lauterbach könnte er bei seinen in Solingen betriebenen Forschungen durch die dort lebenden Nachkommen bzw. Verwandten Jakob Lauterbachs erfahren haben. Im Nachlaß Oligschlägers befinden sich Notizen über ihn.

Der damals vielgelesene Volksschriftsteller Professor und Hofrat Dr. med. Johann Heinrich Jung - geboren 1740 in Grund bei Hilchenbach im Siegerland, gestorben 1817 in Karlsruhe - wollte mit dem Roman unter dem Motto 'Mittelmaß die beste Straß' vor allzu großer religiöser Schwärmerei warnen. Hierzu erdachte er die Titelgestalt Samuel Theobald und beschrieb an dessen Lebenslauf vom Knaben bis zum Geheimrat geistliche und sittliche Gefahren. Den Handlungshintergrund bildeten nach seinem Vorwort 'lauter wahre Geschichten', die er jedoch dichterisch veränderte, miteinander verschmolz und abschnittsweise in der Ich-Form darbot. [...]

Theobald wurde als Zehnjähriger von dem 'berühmten Arzt Rosenbach' aufgenomen und durch den bei diesem angestellten Privatlehrer 'Hasenfeld' auf das Universitätsstudium vorbereitet. [...] Jung-Stilling berichtete u.a.:

Rosenbach »war der Sohn eines armen Tagelöhners, welcher früh starb«. In seinem »dreizehnten Jahre nahm ihn ein Wollenweber« als Waise zu sich. Mit 16 Jahren betrieb er »das Wollspinnen für sich selbst«. Im 20. Lebensjahr »fiel ihm ein Kräuterbuch in die Hand«. Hierdurch angeregt, eignete er sich medizinische Kenntnisse an und betätigte sich mit erstaunlichem Erfolg als Heilkundiger. »Sein Ruhm erscholl weit und breit«, und deshalb wurde ihm bald »von den Ärzten das Handwerk gelegt«, bis er den »Präsidenten von der Kanzlei« kurierte, dessen Krankheit »kein Arzt heilen konnte«.

Rosenbach wurde »reichlich bezahlt« und erhielt die »freie Erlaubnis, die Medizin auszuüben«. Er zog nach »Ederthal, heiratete die Tochter eines ehrbaren Bauern, baute sich ein schönes großes Haus, tat jedermann Gutes.« In 'Religionssachen' ging er »seinen eigenen Gang, doch war er im Grund ein Pietist und verehrte auch allezeit die außerordentlichen Lehrer.« [...]

Wie Jung-Stilling im Roman mitteilte, wurde er »in den sechziger Jahren« zu Rosenbach geschickt, um Arznei für ein vor langer Zeit erkranktes Mädchen zu holen.

(Ab 1762 war er, nachdem er seine Heimat als Existenzsuchender verlassen hatte, Schneidergeselle, Hauslehrer und Kaufmannsgehilfe in Solingen, Hückeswagen, Radevormwald und Krähwinklerbrücke.) Als er von Süden her »den Berg herunterkam«, entdeckte er »neben dem Dorfe linker Hand nordwärts einen schönen blühenden Hügel an dem Abhang eines waldigten Berges, rechts auf diesem Hügel« stand das in »bäurischer Manier« gebaute Fachwerkhaus des Arztes. »Die Haustüre war an der Giebelwand.« Jung-Stilling erwähnte Warteraum und Sprechzimmer, die angeschlossene 'vollständige' Apotheke mit eigenem Provisor und »mehr als 200 Menschen im Grase, welche auf die Audienz des Doktors warteten«.

Im Sprechzimmer erblickte Jung-Stilling »das runde, dicke kleine Männchen mit einer baumwollenen, recht schmutzig weißen Kappe auf dem Kopfe, einem eben so schmutzigen boyenen Wämmschen am Leibe, schwarz- oder fahlledernen Hosen und baumwollenen, aber nicht aufgebundenen Strümpfen an den Beinen«. An dem Doktor fand er »nichts Merkwürdiges, als sein Gesicht. Dieses versprach überaus viel.«

Rosenbach erfragte die Krankheit, schrieb ein Rezept, und Jung-Stilling erhielt vom Apotheker "einen großen Hafen voll schmieriges Fett und einen Sack voll Kräuter, das Fett wurde auf heißem Wein eingenommen, und von den Kräutern wurden Tränke gekocht. Das Mädchen brauchte die Arznei drei Wochen lang, und siehe da, sie war völlig kuriert."

Von den Aussagen, die Jung-Stilling im Roman macht, lassen sich etwa 30 auf Jakob Lauterbach, seine Familie, sein Haus sowie Gruiten-Dorf übertragen und als historisch richtig bestätigen. [...]

Die regionale Überlieferung im Rheinischen Volksblatt von 1877 bildete den Anlaß, nicht nur nach historischen Quellen, sondern auch in der Literatur nach einer authentischen Auflösung der Pseudonyme 'Rosenbach' und 'Ederthal' zu suchen. Dabei ergaben sich für den Verfasser - und zugleich für die Forschung - überraschende Erkenntnisse:

Jung-Stilling hat die Identität des Arztes Rosenbach und seines Wohnortes nie preisgegeben, die des Hauslehrers Hasenfeld dagegen doch. Hinter ihm verbirgt sich Johann Gerhard Hasenkamp (1736-1777), Theologe und Rektor des Duisburger Gymnasiums. Im Theobald-Roman auf Hasenfeld bezogene Schilderungen decken sich mit Begebenheiten aus dem Leben Hasenkamps, die Jung-Stilling in einem späteren Aufsatz mitteilte. [...]

Die über Jung-Stilling publizierte wissenschaftliche Literatur kennt keinen Jakob Lauterbach, vielmehr wird der Arzt Rosenbach mit einem Freund Hasenkamps, dem aus Wichlinghausen gebürtigen und zuletzt in Schwelm tätigen Dr. med. Samuel Collenbusch (1724-1803) gleichgesetzt. Dies geschah erstmals 1860 in einer Veröffentlichung aus dem Nachlaß des in Solingen geborenen Kirchenhistorikers Dr. theol. Max. Goebel (1811-1857). Erstaunlich - denn sein Großonkel Gerhard Wilhelm Goebel war mit einer Tochter Lauterbachs verheiratet!

Die Meinung Goebels wurde von anderen Autoren bis in die Gegenwart übernommen, wobei sie unterstellten, Jung-Stilling habe den im Roman dargelegten Lebenslauf Rosenbachs frei erfunden, da er sich nicht mit dem von Collenbusch deckt. Offenbar ist die aus unserer Region stammende Überlieferung, die schon seit mehr als 120 Jahren auf den geschichtlich zutreffenden Sachverhalt hinweist, den Wissenschaftlern bisher verborgen geblieben. [...]"

[Banniza 1998/99 S. 11 f]


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Gerhard Tersteegen

Gerhard Tersteegen kam am 25.11.1697 in Moers zur Welt. Er entstammte einem von reformierter Frömmigkeit geprägtem Elternhaus. 1713 begann er eine kaufmännische Lehre, gab diesen Beruf aber bereits 1719 wieder auf und lebte seither zurückgezogen. Als Bandweber in Heimarbeit war er in der Lage, sich eine umfangreiche geistesgeschichtliche Bildung anzueignen.


Gerhard Tersteegen
Gerhard Tersteegen
 

Nach einer Zeit intensiver geistiger und religiöser Suche wurde Tersteegen als Prediger, Seelsorger, Schriftsteller und Mystiker zu einem der herausragendsten Vertreter des Pietismus im 18. Jh. Ab 1728 wirkte er als Prediger in der protestantischen Erweckungs-Bewegung, verfaßte zahlreiche Schriften und wurde ein bekannter Dichter von Kirchenliedern. Er starb am 03.04.1769 in Mülheim an der Ruhr.




Johann Heinrich Jung (genannt Jung-Stilling)

Johann Heinrich Jung wurde am 12.09.1740 in Grund/Rothaargebirge geboren. Er wuchs in ärmlichen ländlichen Verhältnissen auf. 1770 bis 1772 studierte er in Straßburg Medizin und kam dort in Kontakt mit Goethe. Ab 1772 war er sieben Jahre lang als praktischer Arzt in Elberfeld tätig. Mehr als 3.000 Menschen gab er das Sehvermögen zurück. Später war er unter anderem Professor für Landwirtschaft, Handlungswissenschaft und Vieh-Arzneikunde in Kaiserslautern und Heidelberg. 1781 erschien seine Schrift "Von dem Nassau-Siegischen Eisen- und Stahlgewerbe in dem Herzogthume Berg", 1798 seine Arbeit über die Ersetzung von Handarbeit durch Maschinen. Ab 1787 lehrte er in Marburg als Professor für ökonomische Wissenschaften.


Jung-Stilling
Johann Heinrich
Jung-Stilling.
Kupferstich von Johann Heinrich Lips, 1801
 

1803 wurde Jung-Stilling vom damaligen Kurfürsten von Baden von der Lehrtätigkeit befreit, zum Berater ernannt und konnte sich so als freier religiöser Schriftsteller betätigen. Weltbekannt wurde er durch seine Lebensgeschichte, deren ersten Band Goethe 1777 unter dem Titel "Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte" herausgab.

1806 übersiedelte Jung nach Karlsruhe. Er starb dort 1817 als anerkannte Autorität der neuen protestantischen Erweckungs-Bewegung.



Quellen und weitere Literatur:
  • Banniza, Hermann: Der Gruitener Doktor Jakob Lauterbach (1713-1773). Als "Arzt Rosenbach" in Jung-Stillings Theobald-Roman von 1784/85. In: Jahrbuch des Kreises Mettmann 1998/99, S. 6-12
  • Brockhaus Enzyklopädie (2001)
  • Engels, Friedrich: Briefe aus dem Wuppertal. Telegraph für Deutschland, März und April 1839 (Organ des Jungen Deutschland)
  • Freie ev. Gemeinde Haan: Festschrift zum 100jährigen Bestehen (1993)
  • Glaser, Carl Eduard: Geschichte der Evangelischen Gemeinde Haan (1932)
  • Jung, Johann Heinrich: Theobald oder Die Schwärmer (ca. 1926)
  • Lomberg, August: Bergische Männer (1927) [Tersteegen und Jung]
  • Mutz, Carl: Bibelaufzeichnungen (1937)
  • Neeb, Horst: Tersteegens Freundeskreise im Raume Solingen und Niederberg (1997)
  • Neeb, Horst: Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen (1997)
  • Rosenthal, Heinz: Solingen Bd. 2 (1972)
  • Rosenthal, Heinz: Em Wauler Dorp (1967)
  • Vollmar, Harro: Häuser und Höfe (ca. 1978-83)
  • Vollmar, Harro: Geschichte der Stadt Haan (1991)

Zum Thema "Gerhard Tersteegen" sind von Horst Neeb außerdem in der Schriftenreihe des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland erschienen:
  • Gerhard Tersteegen und die Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus. 1709-1969 (Düsseldorf 1998)
  • Geistliches Blumenfeld. Briefe der Tersteegen-Freunde 1737 bis 1789 in Abschriften von Wilhelm Weck. Düsseldorf 2000

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