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Leo Busch veröffentlichte 1939 einen weiteren Beitrag, in dem die Gründe für die Auswanderungsbereitschaft klar genannt sind: unerträgliche Armut und hohe Verschuldung der Arbeiter durch langanhaltende Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit.

Der Solinger Landrat berichtete der Düsseldorfer Regierung über den Sachverhalt. Leider ist kein Datum angegeben; jedoch war das bergische Land bereits preußisch, und die ersten Auswanderer hatten Solingen schon verlassen. Mit nachvollziehbaren Argumenten und Vorschlägen sollte schließlich der preußische Kriegsminister veranlasst werden, die bergische Klingenindustrie zu fördern und so den Arbeitern im eigenen Land wieder zu einem Auskommen zu verhelfen. Aber dann war es wohl doch einfacher, die Ausreisegenehmigungen zu erteilen.


Solinger Tageblatt vom 24./25. Juni 1939

Neue Beiträge zur Geschichte der Solinger Auswanderung nach Rußland

im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts
Von Dr. L. Busch, Berlin.

"Aus der langen Reihe von Berichten, die dieses Auswanderungsvorhaben auslösten, dürfte für die Lokalgeschichte der Bericht des damaligen Landrates von Solingen am wertvollsten sein.

So heißt es u.a. in dem Berichte:

»Es kann für die Eingesessenen des mir gewogentlich anvertrauten Kreises Solingen das Auswandern einzelner hiesiger Fabrikarbeiter keineswegs wünschenswert sein, weil dadurch das ganze Fabrikwesen natürlich sehr leiden würde.

Die augenblickliche Stockung des Handels, welche allerdings manchen Fabrikanten großen Schaden tut, verursacht freilich, das jetzt nicht alle Arbeiter die gehörige Beschäftigung und mithin die erforderlichen Verdiensteinnahmen haben. Bei einem solchen Gewerbe, wie es das hiesige ist, kann indessen eine augenblickliche Stockung des Handels wohl ebensosehr leicht eintreten, als dieselbe durch unerwartete Umstände oft leicht auch wieder ge... wird.

Die Auswanderung mehrerer Arbeiter ist daher nicht nur aus jenem Grunde, sondern auch deshalb sehr nachteilig, weil die hiesigen Kaufleute durch ihre Unterarbeiter stets auf Vorrat arbeiten lassen müssen und mir bisher noch Klagen wegen Mangel an geschickten Arbeitern vorgebracht worden sind, worauf sich selbst die verschiedenen Reklamationen wegen der sich beim stehenden Heere befindenden jungen Leute beziehen.

Es ist nicht zu leugnen, daß bei der jetzigen Stockung des Handels viele arme, aber sehr gescheite Fabrikarbeiter ohne Beschäftigung sind und welche mit ihrer oft zahlreichen Familie wegen der jetzt äußerst stattfindenden großen Teuerung in unbeschreiblicher Verlegenheit befinden. Wahr ist aber auch, daß dieses Uebel noch mehr durch die jetzt hier zu strenge herrschende Justiz vermehrt wird, indem so mancher brave und höchst brauchbare Arbeiter sich wegen einer kleinen, durch die jetzige Zeit verursachten Schuld durch Auspfändung seines Eigentums beraubt und zum wirklichen Armen herabgesetzt sehen muß.

Dies letztere, sowie geheime Werber zur Auswanderung, welche sich teilweise unter den Verarmten, jedoch größtenteils unter den zur Arbeit Unlustigen befinden, die verschiedentlich hierselbst mehrere scheinbar falsche aus Rußland kommende, noch aber viel versprechende Briefe zur öffentlichen Kunde gebracht haben, ist wohl eigentlich die Hauptursache, daß sich in der letzten Zeit mehrere hiesige Fabrikarbeiter bei mir wegen Pässe nach Rußland gemeldet haben, indem sie sich dort bessere ... versprechen und der hiesigen Not entziehen wollen.

... Anlage der hohen ministeriellen Verfügung vom 9.2. verzeichnet 11 hiesige Eingesessene, welche von neuem eine Auswanderung nach Rußland beabzwecken. Unter den darin Bezeichneten befinden sich die Arbeiter

          1. Böntgen von Solingen
          2. Adams und Schwarte aus Wald,

von denen und besonders der letztere den hiesigen Fabriken keiner entzogen werden kann, wenn den Fabriken nicht wirklicher Mangel entstehen soll.

Die übrigen bezeichneten Arbeiter:

          1. Leysipper aus Solingen,
          2. Schlechter aus Solingen,
          3. Berg aus Dorp,
          4. R. Weyersberg aus Dorp,
          5. Theegarten aus Dorp,
          6. Schlechter aus Dorp.
          7. Gebrüder Koeller aus Wald

sind nach den Angaben der Bürgermeister meines Kreises nur höchst mittelmäßige Arbeiter und gleich den obigen sehr schwer verschuldet.

Dieser letztere Umstand ist meines Erachtens ein Hauptgrund der Auswanderung, und scheinen gerade die untauglichsten der... Subjekte diejenigen zu sein, welche bei der jetzigen für eine jede Fabrik ungünstigen Zeit auch andere Hauptarbeiter zur einem solchen Plane zu bewegen suchen.

Wenn schon wirklich auch die hier gehorsamst bezeichneten Arbeiter allenfalls entbehrt werden können, so würde indessen auch immer die natürliche Folge davon sein, daß nicht nur alsdann der Kreditor dieser Leute gewiß für immer auf ein Guthaben, welches wohl sehr öfters ein ebenfalls unbemittelter Mann aus Mitleid dargeliehen hat, Verzicht leisten muß, sondern auch so mancher andere unentbehrliche, sich aber in gleicher Lage befindlicher Arbeiter, im Glauben gleichen Rechts ebenfalls Pässe nach Rußland verlangen würde.«

Auf Grund dieses Berichtes des Solinger Landrates stellte sich nicht nur die Düsseldorfer Regierung, sondern auch die maßgebenden Ministerien in Berlin auf den Standpunkt, daß man die Auswanderung der oben aufgeführten Solinger Arbeiter verhindern müsse. Vor einem direkten Verbot aber scheute man zurück, denn man fürchtete damit, bei dem russischen Verbündeten Anstoß zu erwecken, da der russische Gesandte in Berlin offiziell sich um die Auswanderungsgenehmigung für die Solinger Arbeiter bemüht hatte.

Deswegen suchte man vielmehr der Solinger Auswanderungslust dadurch entgegenzutreten, daß man sich um eine sofortige Belebung der Solinger Industrie bemühte. Auf diese Weise hoffte man, die immer weiter um sich greifenden russischen Werbungen im Solinger Industriegebiet unterbinden und dadurch indirekt der Auswanderung nach Rußland entgegentreten zu können. Zu diesem Zwecke wandte sich der preußische Innenminister auch an den preußischen Kriegsminister v. Boyen mit folgendem Schreiben:

»Bei der gegenwärtigen Stockung des Handels, welcher jedoch hoffentlich nicht von langer Dauer sein wird, befinden sich viele Arbeiter aus den Solinger Stahl- und Eisenfabriken im Bergischen ohne Beschäftigung und außer Stande, sich mit ihren Familien zu ernähren. Dieser Umstand wird von den in den Rheinprovinzen sich herumtreibenden geheimen Werbern benutzt, um diese jetzt verarmten Fabrikarbeiter zur Auswanderung zu verleiten.

Auch ist neuerdings von Seiten der hier akkreditierten kaiserlich-russischen Gesandtschaft offiziell darauf angetragen worden, 12 Arbeitern aus Solingen die Erlaubnis zur Emigration nach Rußland zu erteilen. Es kann aber die Auswanderung der beregten Klingenfabrikanten, welche sowohl für die dortige Provinz als für den ganzen Staat verderblich wäre, nicht gestattet werden.

Die dortigen Fabriken würden sonst an guten Arbeitern in der Folge Mangel leiden und selbst in Gefahr kommen, ihren gegenwärtigen Alleinhandel zu verlieren, wenn die von ihren Arbeitern mühsam erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen ins Ausland gebracht und verbreitet werden sollten.

Es ist daher dem Staat viel daran gelegen, daß die Arbeiter aus den Solinger Stahl- und Eisenfabriken in ihrem Vaterland zurückbehalten werden. Zu diesem Zwecke halte ich es aber für notwendig, den bei der jetzigen augenblicklichen Stockung des Handels in Verlegenheit und Armut geratenen Arbeitern auf eine wirksame Weise zu Hülfe zu kommen, damit die Lust zur Auswanderung nicht bei ihnen durch drückende Nahrungssorgen erregt werden.

Euer Excellenz stellen wir hierdurch ganz ergebenst anheim, ob nicht etwa auf dero Veranlassung den hilfsbedürftigen Klingenfabrikanten im Bergischen, welche sich einstweilen ohne Beschäftigung befinden entweder Arbeit beschafft oder Vorschüsse ausgezahlt werden können.«

Die Stellungnahme des Kriegsministers zu dieser Anregung ist aus den Akten nicht ersichtlich. Es ergibt sich lediglich, daß den Solinger Arbeitern schließlich doch die Erlaubnis zur Auswanderung nach Rußland erteilt worden ist."


Auch eine Möglichkeit, mit hoher Arbeitslosigkeit umzugehen.

Eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 in der Weimarer Republik eingeführt; sie konnte allerdings schon bei der Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise 1930-1932 mit über 6 Millionen Arbeitslosen in Deutschland ihren Zweck nicht mehr erfüllen. - Und heute?


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Vieles spricht dafür, dass die Ausgewanderten in Russland das erhoffte bessere Leben gefunden haben, so auch ein älterer Artikel in der Rheinischen Post vom 19. Juli 19?? [Stadtarchiv Solingen FA 1/36; das Jahr ist unleserlich, vermutl. 1950er Jahre].

Diesem Bericht zufolge haben die ausgewanderten Schwertarbeiter für den Förderer ihrer Umsiedlung, Konsul C. von Schlözer aus Lübeck, eine wertvolle Blankwaffe als Ehrengabe geschaffen, die das Deutsche Klingenmuseum Solingen vor langer Zeit von einem Major von Schlözer aus Dresden erworben haben soll. Konsul von Schlözer hatte den Solingern während ihrer Auswanderung (1814 oder doch erst nach 1816?) mit Rat und Tat zur Seite gestanden.


Rheinische Post vom 19. Juli 19??

Meisterstück der Damaszenerkunst

Schlözer-Ehrensäbel im Klingenmuseum

"[...] In einer dem Ehrensäbel beiliegenden Notiz heißt es wörtlich:

»In den Jahren nach 1816 gerieten Tausende von Fabrikanten und Handwerkern am Rhein, darunter auch Waffenschmiede in die bitterste Armut (übermäßige Konkurrenz englischer Fabrikate nach der Kontinentalsperre, dazu Mißwuchs). Durch Vermittelung meines Vaters wurden viele dieser Waffenschmiede mit ihren Familien für die Kronfabrik in Slatoust am Ural engagiert, durch ihn in Lübek ausgerüstet und per Schiff bis Petersburg expediert. In der neuen Heimat fanden diese braven Leute eine glückliche Existenz und um dem Begründer derselben ein Zeichen ihrer Dankbarkeit und ihres Andenkens zu geben, arbeiteten sie für meinen Vater den Säbel, der danach dem Kaiser Alexander I. vorgelegt und mit einem kaiserlichen Reskript nach Lübek befördert wurde.«

Ob das Originalschreiben aus Rußland sich noch in Hand irgendeines Angehörigen der Familie v. Schlözer befindet, ist nicht bekannt. Bei den dem Klingenmuseum übergebenen Akten liegt jedoch noch eine wohl aus der Zeit um 1821 stammende Übersetzung:

Ministerium der Finanzen. - Departement der Berg- und Salz-Werke an den Russischen Vice-Consul Herrn von Schlözer in Lübek.

Die ausländischen Meister, welche die Russische Regierung aus Solingen zur Vervollkommnung der in Slatoust errichteten Gewehr-Fabrik verschrieben hatte, bekennen, bey einem verlängerten Aufenthalte in dieser Fabrik, daß ihr jetziger Zustand so glücklich ist, wie sie es sich in ihrem vorigen Vaterlande kaum träumen durften. Sie einigermaßen als den Urheber ihres Glücks ansehend, haben diese Meister zum Beweise ihrer Dankbarkeit gegn Sie einen Säbel verfertigt, dessen Klinge mit reicher Vergoldung und sehr künstlich ausgearbeiteten Zeichnungen verziert ist. Nachdem S. Erlaucht der Herr Finanzminister hierüber Sr. Kaiserl. Majestät Befehle Allerunterthänigst eingeholt hat, ist die Allerhöchste Resolution erfolgt, Ihnen diesen Säbel zu übersenden. In Erfüllung des Allerhöchsten Willens Sr. Kayerl. Majestät übersendet Ihnen hierbey das Department der Berg- und Salz-Werke den erwähnten Säbel, in dem es Sie bittet, von dem richtigen Empfange desselben das Departement zu benachrichtigen.

30. Juni 1821
Direktor gez. Unterschrift
Chef der Abtheilung Kovanko"


Schlözer-Ehrensäbel

[Stadtarchiv Solingen, FA 1/36]

Der Säbel kann im     Deutschen Klingenmuseum in Solingen-Gräfrath besichtigt werden. Es handelt sich nicht um eine Damaszener, sondern um eine geätzte Klinge, was ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tut.


 

 

"Ehrensäbel mit Scheide für Konsul Schlözer.
Rußland, 1820. Der Säbel ist ein Geschenk Solinger Klingenschmiede, die durch Vermittlung des Konsuls 1814 nach Rußland auswanderten. Gefäß Eisen, geätzt. Griffplatten aus Elfenbein. Klinge geätzt, vergoldet, gebläut.
Scheide Messing vergoldet"
[Deutsches Klingenmuseum Solingen, 2012]


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Interessant ist auch, wie immer wieder der Zufall bei der Gewinnung (familien-)geschichtlicher Daten eine Rolle spielt: hier zum Schicksal insbesondere der ausgewanderten Familien Wolfertz (Wolferz) und Weyersberg.


Die Heimat, Jg. 6, Nr. 4, 14. Februar 1930

Solinger Klingen- und Messerhandwerker in Rußland,
zunächst in Slatoust.

Von Albert Weyersberg, Solingen.

"Im Frühjahr 1814, als es in Solingen sehr an Beschäftigung mangelte, fand unter der Führung des auch sprachlich und wissenschaftlich anscheinend ausnehmend begabten Optikers Peter Kaymer (Kaimer) vom Garzenhaus in der Bürgermeisterei Merscheid und geleitet und eingerichtet durch den Königl. Preußischen Bergrat Friedr. Augt. Alexander Eversmann, den alten Königsrat, eine recht beträchtliche Abwanderung tüchtiger Solinger Klingen- und Messerhandwerker nach Slatoust im russischen Gouvernement Ufa statt.

Auch die Solinger Stadtakten (LPA 8) geben von ihr Kunde und nennen als "zum Savodendienst Sr. Russischen Kaiserl. Majestät engagierte Individuen aus der Gemeinde Solingen"

-  den Klingenschmied Daniel Wolfertz mit Frau und sechs Kindern,
-  den Härter Friedrich Kirchhof,
-  den Aetzer Wm. Melchior,
-  den Vergolder Abrm. Hartkopf mit Frau und vier Kindern,
-  den Messermacher Peter Weyersberg mit Frau und zwei Kindern,
-  den Messermacher Friedr. Wilhelm Weyersberg (get. 28.2.1792) und
-  den Messerheft- und Griffmacher Daniel Ohliger mit Frau und vier Kindern.

Daniel Wolfertz, Friedrich Kirchhof und Wm. Melchior werden hierbei als "unentbehrlich für die hiesige Landesfabrike" bezeichnet. Auswanderer stellten ebenfalls die benachbarten Bürgermeistereien Dorp, Wald und Merscheid, vielleicht auch Höhscheid und Gräfrath, sind doch auch die Namen Berg (aus Wald), Böntgen (Bönichen), Halbach, Kind, Schaaf, Schmidt, Schwarte unter den in Slatoust Beschäftigten vertreten. Fernerhin mögen sich Remscheider angeschlossen haben, soweit sie sich für den von der russischen Regierung verfolgten Zweck, staatliche Klingen- und Messermacherwerkstätten zu errichten, eigneten.

Der erwähnte Klingenschmied (Joh.) Daniel Wolfertz, ein Sohn des Joh. Clemens Wolfertz, hatte Gerdraut Charlotta Weyersberg, geb. 1772, eine Tochter des Peter Weyersberg zu Unnersberg (get. 1732, gest. 1790) zur Frau, während der Messermacher und frühere Schwertschmied (Joh.) Peter Weyersberg, Joh. Abrahams Sohn, geb. 16.7.1772, seit 1801 mit Caroline Ferber vom Höfchen verheiratet war. Die Eheleute Daniel Wolfertz nahmen sechs Kinder mit: Joh. Abraham, get. 30.6.1797, Joh. Daniel, get. 29.5.1800, Cornelia, get. 12.11.1802, Carolina Philippine, get. 9.2.1805, Carl Friedrich, get. 7.3.1808, und Lotta, geb. 23.8.1811; des Ehepaares Peter Weyersberg zwei Kinder: Karoline Henriette, geb. 31.9.1809 und Joh. Wilhelm, geb. 15.9.1811.

Die Erinnerung an diese Abwanderung war in Solingen verloren gegangen, als durch zufällige Beziehungen die Mitteilung hierher gelangte, daß sich unter den Kaufleuten der Stadt Jekaterinburg der Name Weyersberg finde. Im Jahre 1895 gelang es mir daraufhin, mit einer Frau Amalie Weyersberg in Jekaterinburg in briefliche Verbindung zu kommen. Ihr Schwiegersohn, Herr Karl Sieling, antwortete in fließendem Deutsch, aber der Austausch kam, da die russische Post Briefaufschriften in den mir nicht geläufigen russischen Buchstaben wünschte, leider schnell ins Stocken. Durch Herrn Sieling erfuhren wir aber immerhin, daß eine Menge Nachkommen der aus 'Soligen', wie er schrieb, nach Slatoust Gezogenen wie der Boentgen, Ohliger, Wolfertz, Weyersberg später in Jekaterinburg ansässig geworden und weiter zu Wohlstand gelangt sind.

Daß nun mehr Nachrichten über diese zur Verfügung stehen, verdanken wir in erster Linie einem ihrer Nachkommen in weiblicher Linie, Herrn Diplom-Ingenieur Walter Brandt [...]. Herr Walter Brandt, der kürzlich nach Breslau übersiedelte, ist ein Nachkomme 4. Grades des erstgenannten Klingenschmiedes Daniel Wolfertz, des Aelteren, dessen Urenkelin Adele, eine Tochter des 1840 in Slatoust geborenen und 1910 in Riga gestorbenen Dr. med. Reinhold Wolfertz, sich 1808 in Riga mit Erich Walter Brandt vermählte. In Rußland lebende Wolferz stammen von einem älteren Halbbruder des Dr. med. Reinhold Wolferz ab, dem Dr. med. Julius Wolferz in Tschistopol. Sie wohnen oder wohnten in Saratow (Alexander, ein Rechtsanwalt) und in Samara (Valerian, Veterinär oder Tierarzt, früher in Sibirien).

Bilder von Johann Daniel Wolferz, dem Jüngeren, geb. 1800 zu Unnersberg bei Solingen, und seiner ihm in der reformierten St. Marienkirche zu Slatoust angetrauten zweiten Gattin Emilie Rosette Berg sind noch in Riga erhalten, jedoch ist der baltische Zweig der Familie 1826 mit Dr. Reinhold Gotthard Wolferz + in Riga erloschen.

Johann Daniel Wolferz der Jüngere trat 1817 in das Werk zu Slatoust ein und wurde 1846 in den Ruhestand versetzt mit einer Jahrespension von 446 Rubeln und 1 Kop. [Er wurde also bereits mit 46 Jahren pensioniert!] An Auszeichnungen sind ihm zuteil geworden:

1823: 300 Rubel von 1500 Rbl. für die Meister,
1824 die silberne Medaille "Für Eifer",
1825 eine goldene Uhr und Kette für drei Säbel nach eigenen Entwürfen,
1827 einen Brillantring,
1829 150 Rbl.,
1831 150 Rbl.,
1832 75 Rbl.,
1834 100 Rbl.,
1837 690 Rbl.
1839 wurde er Bracker (Braker, Beschauer) bei den Bajonettschmieden,
1846 erhielt er 125 Rbl. Silber (Uebersetzung aus dem Russischen).

Als Joh. Daniel Wolferz in den Ruhestand trat, waren seine Kinder Julius 21 Jahre, Reinhold Eberhard 7, Alwine 6, Julie 2 Jahre alt.

Bei Reinhold Eberhards Taufe im Jahre 1840 werden als Paten genannt: Eduard Wolferz, Abraham Kind und Adolph Lorch, alle drei Fabrikmeister, sowie die Frauen Friederike Böter geb. Ströter, Cornelia Halbach geb. Berg und Cornelia Bildstein geb. Helming. Von den Töchtern heiratete Alwine den Militärarzt und Collegienrat Aloys Eylandt und Julie + Jekaterinburg 1921 .... Böntchen. Beide Ehen blieben kinderlos. Eine weitere, wohl die jüngste Tochter, Emilie, war in zwei Ehen mit Russen vermählt. Bezeichnend für die günstige wirtschaftliche Stellung von Daniel Wolferz ist auch der Umstand, daß er seine beiden Söhne studieren ließ.

Als Namen von nach Slatoust gekommenen Deutschen wurden durch den Generalsekretär der Reichs-Eremitage in Leningrad, Herrn Chosuphoff u.a. angegeben:

    Peter Weinberg
      (Weyersberg?)
    Joh. Wilh. Schmidt 1811,
    Weyersberg,
    Schmitt (?),
    Kaimer 1813,
    Samuel Ohliger,
    Wilhelm Schaaf 1814,
Daniel Wolfertz,
Lorch,
Oberkotte 1815,
Ilerich 1817,
Karl Ohliger,
Gebrüder Schwarte 1819,
Burger 1821 [Berger?],
Wm. Schaaf & Sohn 1822,
Eduard Schmidt 1825,
Bilschtein (Bildstein?) 1851,
Ferber,
Hepp,
Haas 1832,
Schreiber 1835.

Manche dieser Namen und noch mehr weitere, die hier weggelassen wurden, haben offenbar beim Abschreiben in russischen Buchstaben Entstellungen erfahren. Auch die beigefügten Jahreszahlen dürften nicht immer stimmen. Die Jahre 1811 und 1813 sind vielleicht Papieren, die die Uebersiedelung vorbereiteten, entnommen. Deutlich geht aus den Angaben hervor, daß den 1814 ausgewanderten Solingern später noch manche weitere gefolgt sind.

Außer den prächtigen Solinger Erzeugnissen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die die Waffenabteilung der Reichs-Eremitage in Leningrad bewahrt, sind dort auch blanke Waffen, die in den Slatouster Werkstätten hergestellt wurden, zu finden. Sie stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sind meistens mit "Slatoust" und der Jahreszahl, zum Teil auch mit den Namen russischer Klingenschmiede, die wahrscheinlich bei Daniel Wolferz gelernt haben werden, bezeichnet, z. B. mit "J. Buschujew, Slatoust, 1827. Jahr" und mit "Bojarschinow, Slatoust 1836. Jahr".

Ueber den Betrieb der allmählich sehr ausgedehnten staatlichen Waffen- und Messerwerkstätten in Slatoust im Uralgebirge berichtet das reichhaltige Werk von Camille Pagé, La Contellerie, Tome VI, S. 1310, Chatellerault 1904. [...]

In den Registern der reformierten Gemeinde zu Kasan ließen sich ermitteln: Alfred Ant. Theod. Weyersberg, geb. in Menselinsk 1863, konfirmiert in Kasan 18.X.1881 (?) und Reinhold Alex. Ant. Weyersberg, geb. in Menselinsk 1865, konfirmiert in Kasan 8.5.1883. Ihre Eltern hießen wahrscheinlich Johann Karl Reinhold und Emilie Weyersberg (?). Ob es sich hier um Nachkommen von Peter Weyersberg und Caroline Ferber oder um solche von Friedrich Wilhelm Weyersberg handelt, wird kaum noch festzustellen sein, es müßten denn Nachrichten aus Slatouster Kirchenbüchern zu Hilfe kommen.

Eine Uebersiedlung jeder Weyersberg nach dem auf der asiatischen Seite des Urals liegenden Jekaterinburg ist übrigens durchaus wahrscheinlich, hat doch diese betriebsame Bergbau-, Fabrik- und Handelsstadt, wie wir aus Herrn Karl Sielings Mitteilungen wissen, eine besondere Anziehung auf die Nachfahren der in Slatoust ansässig gewordenen Solinger ausgeübt.

Nur durch die Uebergangsverhältnisse, die nach der 1813 erfolgten Besetzung des Bergischen Landes durch die verbündeten Mächte unter den Generalgouverneuren Justus Gruner und Prinz Alexander zu Solms bestanden, und durch die damalige besondere Freundschaft zwischen Preußen und Rußland läßt es sich erklären, daß im Jahr 1814 der Abwanderung solch' zahlreicher tüchtiger Arbeitskräfte keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt wurden. Nachdem 1815 das Großherzogtum Berg preußisch geworden war, wäre eine derartige Schwächung der vaterländischen Industrie wohl nicht mehr zugelassen worden.

Wie dem auch sei, die russische Regierung hat sowohl ihren Zweck erreicht, leistungsfähige Fabriken blanker Waffen einzurichten, als auch die Versprechungen eingehalten, die den angeworbenen Stahlhandwerkern gegeben wurden. Auch das System, durch Auszeichnungen anzuspornen, scheint sich bewährt zu haben. Da die Slatouster Werkstädten dem Staate gehörten, blieben freilich alle, die darin arbeiteten, in einem Angestelltenverhältnis und hatten keine Aussicht, in ihrem Beruf selbständig zu werden. Aber die Hauptsache, daß sie zu Wohlstand gelangten, erfüllte sich in dem Maße, daß ihre Nachkommen Kaufleute wurden oder studieren konnten. Rußlands Volkswirtschaft hat durch den Solinger Zuzug reiche Förderung erhalten.

Vorzustellen suchen müssen wir uns, wie großer Mut und welcher Unternehmungsdrang bei dem Zug zum Ural in Betracht kamen, zumal nach dem kurz vorher mißglückten russischen Unternehmen Napoleons I., das damals in aller Munde war. Nur etwa ein Viertel des Weges ging durch deutsches Land, während drei Viertel auf russisches Gebiet entfielen, auch z. T. auf von Tataren und Baschkiren bewohnte Strecken. Und schnell wird der Karrenzug mit den Gerätschaften und dem Hausrat der Solinger nicht vom Fleck gekommen sein!

Daß sich Abkömmlinge der Solinger außer in die Städte Jekaterinburg, Menselinsk, Kasan, Tschistopol, Samara, Saratow und nach den baltischen Ländern auch südlich unter die ackerbautreibenden Wolgadeutschen verzweigt haben, ist bei ihrer industriellen und kaufmännisch-wissenschaftlichen Einstellung nicht sehr wahrscheinlich, wäre aber immerhin möglich. [...]"


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An der Grenze Asiens stehen bergische Fachwerkhäuser

Unter dieser Überschrift erschien am 14. Januar 1953 in der Zeitung Westdeutsche Neue Presse ein Artikel nach dem Bericht eines WNP-Lesers "auf den Spuren von Solingern, die 1814 in den Ural auswanderten". Dieser namentlich nicht genannte Leser hatte sich 1928/29 während einer Russlandreise längere Zeit in Slatoust aufgehalten.

Zu dieser Zeit waren auf dem Friedhof von Slatoust noch einige Gräber der 1814 eingewanderten Solinger und ihrer Kinder zu finden. Eine der Grabstein-Inschriften lautete in deutscher Sprache:

"Hier ruht in Gott Carl Böntchen (Böntgen), Schleifermeister in der hiesigen ... (unleserlich) -Fabrik, geboren zu Solingen im Herzogtum Berg, den 11. März 1811. Vermählte sich im Jahre 1834 mit Henriette Weyersberg und starb im Jahre 1851, den 13. Februar, hinterließ seine tiefbetrübte Frau mit drei Söhnen und zwei Töchtern."

Die WNP berichtet weiter über die Erinnerungen ihres Abonnenten aus den Jahren 1928/29:

"Es handelt sich um einen Industrieort, der in einer recht reizvollen Landschaft liegt. Der Fluß Aj ist aufgestaut und bildet einen See, über den das in den naheliegenden riesigen Kiefern- und Birkenwäldern gefällte Holz zur Stadt geschafft wird. Slatoust verfügt über ansehnliche und moderne Fabriken der Metallindustrie. Etwa 20 km östlich von der Stadt erhebt sich in welligem Gelände, das im Charakter in etwa dem Bergischen Land entspricht, eine 10 Meter hohe Steinpyramide. Auf der westlichen Seite steht in russischen Buchstaben »Europa«, auf der östlichen Seite »Asia«. ... Hier verläuft die natürliche Grenze zwischen zwei Kontinenten. [...]

In Slatoust, einer sauberen Stadt, die viele Holzhäuser aufweist, hieß noch 1928 die Hauptstraße »Nemzki Ulica« ..., das heißt: »Deutsche Straße«. Auch gab es 1928 noch ein Gebäude, das »Deutsche Kirche« genannt wurde. Auf der Hauptstraße fielen unserem Leser einige Häuser in bergischem Stil auf, die sich von der ortsüblichen Bauweise stark abhoben. Ein Beweis dafür, daß die Werber 1814 den Klingenstädtern nicht zuviel versprachen, als sie »freie Wohnung« boten."
[WNP vom 14.01.1953]

... und Baumaterial, um weitere Gebäude nach eigenem Gutdünken zu errichten - was dann in altbewährter Fachwerkbauweise geschah.

"Nachkommen der Solinger Familien, die es alle zu hohem Ansehen und Wohlstand brachten, waren 1928 nicht mehr aufzufinden. In Slatoust begegnete unser Leser einer Familie mit dem deutschen Namen Schneider. Doch man verstand kein Wort Deutsch mehr."

  Der 30jährige Schwertarbeiter Johann Schneider aus Dorp hatte 1814 mit Frau und einem Kind auf der Liste der Angeworbenen gestanden.

"Interessant ist auch, daß sich, obwohl die deutschen Familien längst vergessen sind, verschiedene Ortsbezeichnungen hielten. So heißt ein Tal in der Nähe der Stadt "Friedenstal", das Wort wird deutsch ausgesprochen."

  Vielleicht war Heimweh der Namensgeber. Friedenstal liegt auf der Solinger Seite der Wupper, die Solingen-Gräfrath von Wuppertal-Cronenberg trennt. Dort stand der Dritte Kotten. Vielleicht haben einige der Ausgewanderten früher dort gearbeitet.

"Umfangreiche Forschungen des Bergischen Geschichtsvereins und von Albert Weyersberg, Solingen, ergaben, daß nahezu alle Kinder der Auswanderer studierten. Ein Beweis für den Wohlstand ihrer Eltern." [WNP vom 14.01.1953]


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Slatoust im Ural

Im 18. und 19. Jh. war der Ural das Zentrum der Metallverarbeitung des russischen Reiches.
Meyers Konversationslexikon von 1888 nennt ausdrücklich das hervorragende Eisenwerk von Slatoust.
Knaurs Konversationslexikon von 1932 fasst sich kurz: "Slatoust, russ. St. im Rätestaat Baschkirien, im Uralgebiet, 48 500 E."
Ebenso Beckmanns Neues Weltlexikon 1959: "Slatoust, sowjetruss. St. im Uralgebirge, am Aj, 90 000 E., Eisen-, Gußstahl- und Waffenindustrie."
Noch knapper Knaurs Lexikon von 1991: "Slatoust, russ. Ind.st. im Ural, 203 000 E.; Stahlwerke."

Slatoust hat heute ca. 250 000 Einwohner. In der Zeit des "kalten Krieges" war die Stadt wegen der zahlreichen dortigen Waffenfabriken für Ausländer nicht zugänglich. Auch die Einwohner durften nur sehr beschränkt reisen. Ein altes Stahlwerk beherrscht noch die aus Solingen importierte Technik der Stahlgravuren mit Gold-, Nickel- und Chromsalzen. [Webseite: "http://www.hillerschule.de/Partner.htm" am 02.01.2004]

Das Städtchen Slatoust (Goldener Mund) liegt malerisch eingebettet zwischen den Bergschluchten des Taganaj und dem Fluss Aj. Bekannt ist die Stadt, die rund 160 km von Tscheljabinsk entfernt liegt, vor allem durch ihre Meister der Metallgravur. Hier wirkten in den 1820er Jahren auch die Graveure Nikolaj und Ludwig Schafrasch aus Solingen. [Die am 02.01.2004 zitierte Internetseite existiert nicht mehr.]

  Schafrasch - ein Solinger Name? Der ähnlichste Name, Wilhelm Schaaf, erscheint 1814 und 1821 in den Listen.



Quellen:
  • Beckmanns (1959)
  • Busch, Leo: Neue Beiträge zur Geschichte der Solinger Auswanderung nach Rußland im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Solinger Tageblatt vom 24./25.06.1939
  • Knaurs (1932) (1991)
  • Rheinische Post vom 19.07.19??
  • Westdeutsche Neue Presse vom 10.01.1953 und 14.01.1953 [-hey.] [WNP]
  • Weyersberg, Albert: Solinger Klingen- und Messerhandwerker in Rußland, zunächst in Slatoust. Die Heimat 4/1930 S. 13 f

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