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Betriebssysteme im Solinger Industriebezirk

Anfang 1969 waren dem Solinger Gewerbeaufsichtsamt neben etwa 10 300 Beschäftigten in der Solinger Schneidwarenindustrie noch 4 573 Auftragsverhältnisse von Heimarbeitern gemeldet, überwiegend Schleifer. Diese Auftragsverhältnisse verteilten sich auf etwa 2 000 Heimarbeiter. Jeder Heimarbeiter arbeitete i.d.R. für zwei bis drei Herstellerfirmen. [Röltgen S. 50]  Darunter war damals auch mein Vater, der ein Jahr später seinen Beruf als heimarbeitender Rasiermesserschleifer an den Nagel hängen musste, nicht nur wegen der schlechten Auftragslage. Das ist 35 Jahre her, und inzwischen hat sich vieles verändert.

Heimarbeit ist "das" seit Jahrhunderten praktizierte, typische Solinger Betriebssystem. Heute sind die Heimarbeiter bzw. Hausgewerbetreibenden im Schneidwarengewerbe rar geworden, aber noch gibt es sie.

Definition des "Heimarbeiters" in Solingen
Die Schleifer-Betriebssysteme
    -  Die Wasserkotten
    -  Die Dampfschleifereien
    -  Die "eigenen Betriebsstätten"
    -  Heimarbeiter im Fabrikbetrieb
    -  Das Stellenmietersystem



Definition des "Heimarbeiters" in Solingen

Im landläufigen Sinne werden als Heimarbeiter Lohnarbeiter bezeichnet, die zu Hause arbeiten, aber zu ihrem Arbeitgeber in einem abhängigen Dienstverhältnis stehen. In der Solinger Schneidwarenindustrie ist das anders.

Eine passende Defintion enthält der Rahmentarifvertrag für die Heimindustrie vom 01.12.1949, abgeschlossen zwischen dem Arbeitgeberverband e.V. Solingen und der Industriegewerkschaft Metall, Verwaltungsstelle Solingen:

"Hausgewerbetreibender und Heimarbeiter im Sinne dieses Vertrages ist, wer ohne Gewerbetreibender zu sein, im Auftragsverhältnis in eigenen oder gemieteten Arbeitsräumen oder Arbeitsstellen mit eigenen oder gemieteten Werkzeugen oder Gerätschaften allein, mit Verwandten oder mit nicht mehr als zwei fremden Hilfskräften für einen oder mehrere Auftraggeber Schneidwaren bearbeitet oder verpackt und dabei keinen disziplinären Anweisungen des Auftraggebers unterliegt." [Zitiert bei Röltgen S. 50 f]


Nach § 162 der Reichsversicherungsordnung "gelten als Hausgewerbetreibende die selbstständigen Gewerbetreibenden, die in eigenen Betriebsstätten im Auftrage und für Rechnung anderer Gewerbetreibender gewerbliche Erzeugnisse herstellen oder bearbeiten. Aus dieser Eigenständigkeit ergibt sich, daß der Hausgewerbetreibende keinen Arbeitgeber, sondern einen bzw. mehrere Auftraggeber hat. Er ist also in persönlicher Hinsicht völlig frei und kann Art und Umfang seiner Tätigkeit nach seinem Ermessen bestimmen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit des Hausgewerbetreibenden ist allein schon Grund genug, ihn in den Kreis der Pflichtversicherten einzubeziehen." [Röltgen S. 51]

Seine traditionelle Selbstständigkeit und starke Position zur Hoch-Zeit der Zünfte ist spätestens seit dem vorletzten Jahrhunderts zu einer "Schein-Selbstständigkeit" geworden.




Die Schleifer-Betriebssysteme

Die Wasserkotten

Die wassergetriebenen Schleifkotten waren Eigentum ihrer Erbauer, die als Schleifermeister in ihren Kotten arbeiteten, mit Gesellen und Lehrlingen oder ohne.

Schon im Mittelalter musste für Schleifkotten, die auf Grundstücken der an der Wupper liegenden Rittergüter erbaut waren, Pacht bezahlt werden. Erhalten gebliebene Aufzeichnungen lassen heute Rückschlüsse auf die Geschichte einzelner Wupperkotten zu. Die Pachten waren relativ gering und wurden auf Grund der Schleifer-Privilegien für lange Zeit auch nicht erhöht.

Das Verhältnis zwischen diesen Grundbesitzern und den Wupperschleifern soll ein recht gutes gewesen sein. "Von Ausschreitungen oder direkten Prozeßverfahren zwischen Schleifern und eingesessenem Landadel hat man nie etwas gehört, obwohl die Schleifer in den Jahrhunderten des Bestehens ihrer Bruderschaft wegen der vielen Schleifer-Fehden gegen die anderen Bruderschaften immer als besonders "unruhig" galten und in Jahnzehnte dauernden Prozessen das Reichskammergericht in Wetzlar beschäftigt hielten. Ihre große Zahl, ihr solidarisches Auftreten bei aller Eigenbrötlerei, ihr Hochmut und Stolz waren und sind nicht immer dazu angetan, sie als die umgänglichsten Mitmenschen zu bezeichnen." [Röltgen S. 53]

Charakteristika, die die Arbeitsstrukturen im Klingenhandwerk beeinflussten?

Mit zunehmender Nachfrage nach Solinger Schneidwaren wurden die Kotten größer. Und da die Wasserkraft des Flusses ausreichte, konnten um die Jahrhundertwende an der Wupper Schleifkotten mit über hundert Schleifstellen betrieben werden.

Infolge von Erbteilungen wurden zunehmend Erbengemeinschaften Eigentümer der Kotten. Auf diese Weise und durch Verkauf der Anteile gelangten sie auch in den Besitz von Nicht-Schleifern oder solchen, die ihren Beruf nicht mehr ausübten. Diese Eigentümer vermieteten ihre nicht selbst genutzten Schleifstellen an selbstständige Schleifermeister, die über keinen eigenen Werkstätten verfügten.

Dass sogar halbe Steine vermietet wurden, zeigt diese Annonce:


Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 27. Februar 1861, vom 9. März 1861 u.a.

  Für Schleifer.

Am Balkhauser-Kotten sind noch 3 bis 4 Schleifstellen und die Hälfte von einem großen Stein zu vermiethen und können gleich bezogen werden. Das Nähere bei A. Wirts am Wupperhof.



Die Dampfschleifereien

Bei andauerndem Frost oder extremer Trockenheit konnte in den Wasserkotten oft wochenlang nicht gearbeitet werden. Das sollte sich durch Nutzung der Dampfkraft ändern: Mitte des 19. Jh. begannen wohlhabende Fabrikanten mit der Einrichtung von Dampfschleifereien ("Maschinn" genannt) in verkehrsgünstiger Lage auf den Höhenrücken, um dort billigere Lohnarbeitskräfte zu beschäftigen. Aber das Selbständigkeitsbedürfnis der Schleifer war so groß, dass kaum einer der "Alt-Eingesessenen" in diesen "Bärenställe" genannten Schleifhäusern arbeiten wollte.

Dazu waren sie erst bereit, als man in bewährter Weise begann, die einzelnen Schleifstellen an "selbstständige" Schleifer zu vermieten. Auch viele Wupperschleifer zogen in diese Dampfschleifereien, und die alten Wupperkotten verfielen. Wo an den Bächen keine Alternative bestand, arbeiteten die Schleifer in den Wasserkotten weiter, die vereinzelt zusätzlich mit Dampfmaschinen ausgerüstet wurden.


Loosen Maschinn
 
2004
Loosen Maschinn in Solingen-Widdert,
ehemals eine der größten
Solinger Dampfschleifereien



Die "eigenen Betriebsstätten"

Ende des 19. Jh. wurde das Bergische Land an das Stromnetz angeschlossen. Die neue Antriebskraft führte dazu, dass die Schleifer wieder in die altgewohnten Heimwerkstätten zurückkehrten oder sich solche in der Nähe ihrer Wohnung einrichteten. Die "eigenen Betriebsstätten" schossen wie Pilze aus dem Boden. 1935 schrieb das Solinger Tageblatt:

"Die durch die Elektrizität unabhängig gewordene Arbeitsstätte liegt meist im Unterbau oder hinter dem Haus, und das oft so still liegende Industrieeigenheim, die idealste Arbeitsstätte mit dem Blick ins Freie und Grüne verrät nicht, wie fleißig hier gearbeitet wird." [Zitiert bei Röltgen S. 56]

Der überwiegende Teil der heimarbeitenden Schleifer, Reider usw. arbeitete in solchen "eigenen" Betriebsstätten. Die Werkstatt kann z.B. im Untergeschoss des Wohnhauses untergebracht sein; dann arbeitet der Schleifer meist alleine. Ist sie vom Haus getrennt und etwas größer, dann schließen sich häufig zwei bis drei Schleifer zusammen, um dort - jeder für sich - zu arbeiten. Einer von ihnen ist meist der Eigentümer, die anderen mieten ihre Stellen bei ihm. Eigentlich ganz ähnlich wie in den früheren kleinen Bachkotten, nur dass diese eben oft nicht so bequem in Wohnungsnähe lagen.


Taschenmesser-Reiderei Lauterjung
2003   Ehemalige Taschenmesser-Reiderei Lauterjung, Solingen, Schaberger Straße 16
 
Taschenmesser-Reiderei Lauterjung
2003   Die Werkstatt ist Teil des Rheinischen Industriemuseums und kann besichtigt werden.




Heimarbeiter im Fabrikbetrieb

Wer nicht Eigentümer einer "eigenen Betriebsstätte" war oder in einer solchen eine Stelle gemietet hatte, konnte dies auch in der Fabrik eines seiner Auftraggeber tun.

Zu unterscheiden sind Heimarbeiter, die eine Stelle in der Fabrik gemietet haben und

(a) alle Gerätschaften und Hilfsstoffe selbst stellen (das übliche Verfahren).
(b) die Werkzeuge gestellt bekommen, die Hilfsstoffe aber selbst stellen.
(c) alles zur Arbeit Erforderliche gestellt bekommen, die sog. "Fabrikheimarbeiter".

Je mehr der Auftraggeber an Materialien stellt, umso geringer ist natürlich die Selbstständigkeit des Heimarbeiters in der Fabrik. Die Heimarbeiter (a) und (b) sind nicht weisungsgebunden, können auch für mehrere Auftraggeber arbeiten, kommen und gehen nach Belieben und können auch andere für sich arbeiten lassen.

Der Fabrikheimarbeiter (c) - ein merkwürdiger Begriff -, der nur seinen Arbeitsanzug mitbringt, ist den Lohnempfängern des Betriebes gleichgestellt. Vom Betriebsschleifer unterscheidet ihn nur, dass er nach dem Preisverzeichnis bezahlt wird und in den Räumen der Heimarbeiter seine Tätigkeit ausübt und nicht bei den Lohnschleifern. Obwohl er an die betriebsüblichen Arbeitsstunden gebunden ist, braucht der Fabrikheimarbeiter üblicherweise die Kontrolluhr nicht zu drücken.

Tatsächlich gab es bei den Heimarbeitern in der Fabrik und insbesondere bei den "Fabrikheimarbeitern" (c) beinahe so viele Einzelabmachungen wie Betriebe, wie Röltgen 1974 schrieb.


Schleifer
 
1913
Schleiferei
einer Stahlwarenfabrik



Das Stellenmietersystem

Der nach dem beschriebenen Betriebssystem arbeitende Heimarbeiter ist ein Stellenmieter. Das Stellenmietersystem gibt es - so Röltgen - nur in der Solinger Schneidwarenindustrie, in keiner anderen Industrie oder Branche weltweit. [S. 58]

Die Grenze zwischen Selbstständigkeit und versicherungspflichtiger Abhängigkeit wurde so festgelegt:

"Ein Hausgewerbetreibender (Stellenmieter) arbeitet in einem von seinem Arbeitgeber gemieteten Raum, und ist in berufsüblicher Tätigkeit ganz oder überwiegend (d.h. 75% und mehr) für diesen beschäftigt. Dieser Stellenmieter gilt nicht mehr als Hausgewerbetreibender im Sinne der Reichsversicherungsordnung, sondern als Arbeiter (Lohnarbeiter). Ob er die Hilfsstoffe selbst beschafft oder von seinem Arbeitgeber gestellt bekommt, ist in allen hier erörterten Fällen für seine Versicherungspflicht unerheblich."
[Merkblatt "Die Sozialversicherung der Hausgewerbetreibenden" für Solingen; zitiert bei Röltgen S. 58]

Natürlich gab es auch den Schneidwarenschleifer als Betriebsarbeiter, also den "ganz normalen" Lohnempfänger. 1974 war er noch die Ausnahme in Solingen, die Heimarbeiter waren in der Überzahl. Heute ist es umgekehrt.

  Heimarbeitertarife


Heimarbeiter-Betriebssysteme
I. Heim-Heimarbeiter:

   1. Eigentümer mit eigenen Gerätschaften und eigenen Hilfsstoffen.
   2. Echte Stellenmieter mit eigenen Gerätschaften
      und eigenen Hilfsstoffen.
      (Unabhängig davon, ob sie für einen oder mehrere Auftraggeber
      arbeiten.)

II. Betriebs-Heimarbeiter: 1. Echte Stellenmieter mit eigenen Gerätschaften und eigenen Hilfsstoffen. (Mehrere Auftraggeber) 2. Echte Stellenmieter mit fremden Gerätschaften und eigenen Hilfsstoffen. (Mehrere Auftraggeber) 3. Unechte Stellenmieter mit eigenen Gerätschaften und eigenen Hilfsstoffen. (Fabrikheimarbeiter) 4. Unechte Stellenmieter mit fremden Gerätschaften und fremden Hilfsstoffen. (Fabrikheimarbeiter)
Nach ortsüblichem Sprachgebrauch
"Heim-Heimarbeiter"    = Eigentümer gemäß I, 1
                       = Echter Stellenmieter  gemäß  I, 2

"Stellen-Mieter"       = Betriebs-Heimarbeiter gemäß II, 1
                       = Betriebs-Heimarbeiter gemäß II, 2
                       = Echter Stellenmieter  gemäß  I, 2

"Fabrik-Heimarbeiter"  = Betriebs-Heimarbeiter gemäß II, 3
                       = Betriebs-Heimarbeiter gemäß II, 4


Quelle:
  • Röltgen, Karl: Das Berufsbild des Schleifers in der Entwicklung der Solinger Industrie. Editrice Imagio Christi, Roma. 2. Aufl. 1974

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