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Erkenntnisse über die Schädlichkeit von Kinderarbeit

Kritische Stimmen blieben ungehört. Bis die preußische Regierung in Berlin auf eine fatale Folgeerscheinung aufmerksam wurde: Aus den Industriebezirken kamen immer weniger Rekruten. Der Gedanke lag nahe, dass die schwächliche Konstitution ganzer Jahrgänge auf das übermäßige Arbeiten der Kinder und Jugendlichen zurückzuführen war.

Der Geheime Regierungsrat Keller wurde vom preußischen Minister für Kultur, Unterricht und Medizinalwesen beauftragt, in den industriellen Zentren des Rheinlandes und des Bergischen Landes zu erkunden, "wie das Interesse des preußischen Staates an einem zur Sicherstellung eines gesunden Soldatennachwuchses erforderlichen 'gesetzlichen Schutze der Körper- und Seelenkräfte der Jugend' mit den Interessen der Fabrikbesitzer an der Ausnutzung billiger kindlicher Arbeitskraft vereinbart werden könnte." [Huck/Reulecke 1984 S. 145]

Um die Interessen der Kinder ging es also nicht, aber manchmal heiligen die Mittel auch den Zweck.

Keller stellte 1834 eine erschreckend schlechte körperliche und geistige Verfassung der Kinder und Jugendlichen fest, die zum Teil schon seit ihrem sechsten Lebensjahr in Manufakturen und Fabriken arbeiteten. Auch gewann er den Eindruck, dass die meisten rheinischen und bergischen Unternehmer dem Schicksal ihrer Kinderarbeiter gleichgültig gegenüberstanden. - Allmählich begannen Berichte und Schilderungen wie die von Keller und Diesterweg Prozesse des Umdenkens in Gang zu setzen.


Cromford
 
Abb.: Rheinisches Industriemuseum
Ratingen (Detail)

Noch war es nicht weit her mit dieser Einsicht. Arbeitsangebote für Kinder erschienen hin und wieder auch im Solinger Kreis-Intelligenzblatt. Allerdings gab es auch Anzeigen, die Kinder für die betreffende Beschäftigung ausdrücklich ausschlossen.


Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 5. August 1835

Es können mehrere Knaben und Mädchen von 8 bis 16 Jahren in meiner Knopffabrik Beschäftigung finden. Joh. Daniel Schwarte.




Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter
in den Fabriken vom 9. März 1839

Am 9. März 1839 wurde das erste Schutzgesetz für arbeitende Kinder erlassen: das "Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken". Dass es endlich dazu kam, lag an der nicht mehr zu verdrängenden Erkenntnis, dass zu frühe und ständige Fabrikarbeit wahrhaftig zur Wehrdienst-Untauglichkeit führte.

Nach dem Schutzgesetz durften nun Kinder unter neun Jahren überhaupt nicht mehr in den Fabriken beschäftigt werden und Jugendliche unter 16 Jahren nur dann, wenn sie drei Jahre lang die Schule besucht hatten. Wurden Fabrikschulen gestellt, konnte die Verpflichtung zum vorherigen Schulbesuch entfallen. Vom Erfolg des Unterrichts war nicht die Rede.

Die tägliche Arbeitszeit der Jugendlichen durfte zehn Stunden nicht überschreiten. Sonn- und Feiertagsarbeit sowie Nachtarbeit wurden untersagt. Die vorgesehenen Strafen bei Zuwiderhandlungen dürften eher symbolischen Charakter gehabt haben. Kontrollen waren nicht vorgesehen, und so hing die Einhaltung der Bestimmungen in der Praxis vom Gutdünken der Unternehmer ab.

Schon diese minimalen Schutzbestimmungen führten zum (wenn auch vergeblichen) Protest von Arbeitgebern, und die Bestimmungen wurden vielfach umgangen. Nach wie vor wurden sogar in einigen Fabriken die Nächte von Samstag auf Sonntag von Erwachsenen wie von Kindern durchgearbeitet. [Goebel S. 14]


Cromford
 
Fabrikschule.
Abb.: Rheinisches Industriemuseum
Ratingen (Detail)

R e g u l a t i v
über
die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken.

D. d. den 9, März 1839.
_______________

§. 1. Vor zurückgelegtem neunten Lebensjahr darf niemand in einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden.

§. 2. Wer noch nicht einen dreijährigen regelmäßigen Schulunterricht genossen hat, oder durch ein Zeugniß des Schulvorstandes nachweiset, daß er seine Muttersprache geläufig lesen kann und einen Anfang im Schreiben gemacht hat, darf vor zurückgelegtem sechszehnten Jahre zu einer solchen Beschäftigung in den genannten Anstalten nicht angenommen werden.

Eine Ausnahme hiervon ist nur da gestattet, wo die Fabrikherren durch Errichtung und Unterhaltung von Fabrikschulen den Unterricht der jungen Arbeiter sichern. Die Beurtheilung, ob eine solche Schule genüge, gebührt den Regierungen, welche in diesem Falle auch das Verhältniß zwischen Lern- und Arbeitszeit zu bestimmen haben.

§. 3. Junge Leute, welche das sechszehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, dürfen in diesen Anstalten nicht über zehn Stunden täglich beschäftigt werden.

Die Orts-Polizei-Behörde ist befugt, eine vorübergehende Verlängerung dieser Arbeitszeit zu gestatten, wenn durch Naturereignisse oder Unglücksfälle der regelmäßige Geschäftsbetrieb in den genannten Anstalten unterbrochen und ein vermehrtes Arbeitsbedürfniß dadurch herbeigeführt worden ist.

Die Verlängerung darf täglich nur eine Stunde betragen und darf höchstens für die Dauer von vier Wochen gestattet werden.

§. 4. Zwischen Zwischen den im vorigen Paragraphen bestimmten Arbeitsstunden ist den genannten Arbeitern Vor- und Nachmittags eine Muße von einer Viertelstunde und Mittags eine ganze Freistunde und zwar jedesmal auch Bewegung in freier Luft zu gewähren.

§. 5. Die Beschäftigung solcher jungen Leute vor 5 Uhr Morgens und nach 9 Uhr Abends, so wie an den Sonn- und Feiertagen ist gänzlich untersagt.

§. 6. Christliche Arbeiter, welche noch nicht zur heiligen Kommunion angenommen sind, dürfen in denjenigen Stunden, welche ihr ordentlicher Seelsorger für ihren Katechumenen- und Konfirmanden-Unterricht bestimmt hat, nicht in den genannten Anstalten beschäftigt werden.

§. 7. Die Eigenthümer der bezeichneten Anstalten, welche junge Leute in denselben beschäftigen, sind verpflichtet, eine genaue und vollständige Liste, deren Namen, Alter, Wohnort, Eltern, Eintritt in die Fabrik enthaltend, zu führen, dieselbe in dem Arbeits-Lokal aufzubewahren und den Polizei- und Schulbehörden auf Verlangen vorzulegen.

§. 8. Zuwiderhandlungen gegen diese Verordnung sollen gegen die Fabrikherren, oder deren mit Vollmacht versehenen Vertreter durch Strafen von 1 bis 5 Thalern für jedes vorschriftswidrig beschäftigte Kind geahndet werden.

Die unterlassene Anfertigung oder Fortführung der im §. 7. vorgeschriebenen tabellarischen Liste wird zum ersten Male mit einer Strafe von 1 bis 5 Thalern geahndet; die zweite Verletzung dieser Vorschrift wird mit einer Strafe von 5 bis 50 Thalern belegt. Auch ist die Orts-Polizei-Behörde befugt, die Liste zu jeder Zeit anfertigen oder vervollständigen zu lassen. Es geschieht dies auf Kosten des Kontravenienten, welche zwangsweise im administrativen Wege beigetrieben werden können.

§. 9. Durch vorstehende Verordnung werden die gesetzlichen Bestimmungen über die Verpflichtung zum Schulbesuch nicht geändert. Jedoch werden die Regierungen da, wo die Verhältnisse die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder in den Fabriken nöthig machen, solche Einrichtungen treffen, daß die Wahl der Unterrichtsstunden den Betrieb derselben so wenig als möglich störe.

§. 10. Den Ministern der Medizinal-Angelegenheiten, der Polizei und der Finanzen bleibt es vorbehalten, diejenigen besondern sanitäts-, bau- und sittenpolizeilichen Anordnungen zu erlassen, welche sie zur Erhaltung der Gesundheit und Moralität der Fabrikarbeiter für erforderlich halten. Die hierbei anzudrohenden Strafen dürfen 50 Thaler Geld- oder eine diesem Betrag entsprechende Gefängnisstrafe nicht übersteigen.

Berlin, den 9. März 1839.

Königliches Staats-Ministerium.
Friedrich Wilhelm, Kronprinz.


Frh. v. Altenstein. v. Kamptz. Mühler. v. Rochow. v. Nagler.
Graf v. Alvensleben. Frh. v. Werther. v. Rauch.

Solinger Fabriken waren von den Beschränkungen dieses Gesetzes nur im Hinblick auf die Arbeitszeit betroffen. Es gab ein geordnetes Schulwesen; zwölfjährige Kinder hatten ihre dreijährige Schulpflicht bereits erfüllt. Jugendliche Arbeiter wurden in dieser Zeit in den Tabakfabriken und in den neu aufkommenden Taschenbügel- und Knopffabriken eingesetzt. Auch die Buchbindereien beschäftigten Jugendliche. Aber sie galten um 1840 noch als reine Handwerksbetriebe, ebenso wie die Schleifkotten, die erst 1845 von der Gewerbeaufsicht nicht mehr den Handwerksbetrieben zugeordnet wurden [Rosenthal 2. Bd. S. 304], und fielen nicht unter das Regulativ.




Novelle der preußischen Gewerbeordnung:
Gesetz zur Kinderarbeit vom 16. Mai 1853

Der praktische Erfolg des Regulativs war aufgrund der fehlenden Kontrollmöglichkeiten nicht eben durchschlagend und eine Gesetzesreform also erforderlich. Am 16. März 1853 erließ die preußische Regierung ein Ergänzungsgesetz zum Regulativ vom 9. März 1839.

Gestattet war danach die Beschäftigung von Jugendlichen in Fabriken
ab 1. Juli 1853 nur noch nach vollendetem zehnten Lebensjahr,
ab 1. Juli 1854 nach vollendetem elften Lebensjahr und
ab 1. Juli 1855 nach vollendetem zwölften Lebensjahr.

Die Arbeitszeit der schulpflichtigen Kinder durfte sechs Stunden täglich nicht überschreiten. Auf die Schulausbildung wurde nun noch größerer Wert gelegt: Jedes Kind musste mindestens drei Stunden täglich in öffentlichen Elementarschulen oder Fabrikschulen unterrichtet werden. Für Schulentlassene sollten möglichst Nachhilfeschulen eingerichtet werden. Der Unterricht sollte in den frühen Morgenstunden vor Arbeitsbeginn stattfinden, keinesfalls aber an Sonn- und Feiertagen während der Zeit des Gottesdienstes.

Fabrikinspektoren sollten die Einhaltung der Vorschriften sicherstellen und darauf achten, dass die Kinder durch ihre Arbeit weder sittlich noch gesundheitlich gefährdet wurden. Kinder, besonders Mädchen unter 16 Jahren, sollen möglichst nicht mit Erwachsenen im gleichen Raum arbeiten. Der Lohn sollte den Eltern oder Vormündern ausgezahlt werden, nicht den Kindern. Die Durchsetzung dieser Vorschriften war für pflichtbewusste Fabrikinspektoren keine leichte Aufgabe. Zwar mussten sie in die Fabriken eingelassen werden, "man hält sie aber am Tor so lange auf, bis alle regelwidrigen Zustände beseitigt sind und z. B. Kinder, die nachts arbeiten, die Fabrik durch die Hintertür verlassen haben." [Chronik S. 560]

Auch Unternehmer Brügelmann in Ratingen-Cromford fand Wege, die Vorschriften zu umgehen. "Bis 1870 erhielten Lehrlinge von Brügelmann überhaupt keinen Lohn, bevor sie nicht selbst eine Maschine bedienen konnten. Es bürgerte sich daher ein, daß Kinder in der schulfreien Zeit in die Fabrik gingen, um dort die Grundzüge des Spinnens und Webens zu erlernen, so daß sie bei Beginn ihres Arbeitsverhältnisses mit 14 Jahren bereits eine Maschine bedienen konnten. Vor allem aber fand wieder eine Verlagerung der Kinderarbeit in das Heimgewerbe statt. [Gellert S. 71]




Aus den Jugenderinnerungen des späteren Amerika-Auswanders Hermann Enters

Eindrucksvoll geben die Jugenderinnerungen des 1846 in Barmen geborenen, späteren Amerika-Auswanderers Hermann Enters die Situation einer in bitterster Armut lebenden Weber-Familie Mitte des 19. Jh. im Wuppertal wieder. Von klein auf musste er beim Spulen helfen und noch vor seiner Konfirmation eine schlecht bezahlte Arbeit in einer miserabel ausgestatteten Riemendreherei aufnehmen. Das Wort Arbeitssicherheit war noch nicht erfunden.

"Nun mußte ich jeden Tag, ohne Unterbrechung, 15 Stunden in der Fabrik liegen. Ich war doch noch ein Kind, ich ging noch in die Kinderlehre beim Pastor Thümmel. Es war Winter. Jeden Morgen 1/2 6 Uhr mußte ich aus dem Böckmannsbusch nach dem Rübels Bruch, sozusagen in die Hölle, und kam abends um 1/2 10 Uhr heim."  -  Eine empfehlenswerte Lektüre!




Novelle der Gewerbeordnung und Abschaffung der Kinderarbeit
am 17. Juli 1878

Am 17. Juli 1878 novellierte der Reichstag in Berlin die Gewerbeordnung und übernahm das preußische Gesetz vom 16. Mai 1853. Während die Kinderarbeit in Fabriken verboten wurde, blieb sie in der Landwirtschaft und Heimarbeit erlaubt. Kinder unter 14 Jahren durften nicht mehr als sechs Stunden täglich arbeiten, Jugendliche von 14 bis 16 Jahren nicht mehr als zehn Stunden. Kinder unter 12 Jahren durften erst erwerbstätig werden, wenn sie sechs Jahre lang die Schule besucht hatten.

Anlass dieser Neuregelungen war - wie auch bei den früheren Schutzgesetzen - die immer noch gültige Erkenntnis, dass Fabrikarbeit die Gesundheit der Heranwachsenden beeinträchtigte und ihre Tauglichkeit als Rekruten minderte. Es waren unruhige Zeiten.





1883   Die Belegschaft der Zeche Karl in Langerfeld (heute Wuppertal)
Abb.: Voigt o.J. S. 142


1883 war die Kinderarbeit abgeschafft; erst mit 14 Jahren durften Jugendliche im Bergwerk arbeiten. Der Junge links im Foto wirkt für 14 Jahre allerdings sehr schmächtig. Als Maskottchen wird er wohl nicht ins Bild geraten sein, sonst stünde er nicht mutterseelenallein abseits von der übrigen Belegschaft.

Von 1879 bis 1895 arbeiteten in der Zechenanlage "Karl" auf der Beyeröhde in Langerfeld (Wuppertal) etwa 50 Arbeiter, die meisten unter Tage. Es gab Vorkommen von Eisenstein und Zinkspat (Galmei). [Voigt o.J. S. 142]





1895   Das Bild zeigt die Belegschaft des Obenfriedrichsthaler Kottens an der Wupper.
Die Kinder waren selbstverständlich dabei. Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen


In den Heimarbeiterfamilien des Solinger Industriebezirks halfen die eigenen Kinder schon in jungen Jahren mit, in den Schleifkotten z.B. bei Polierarbeiten (das hieß: "den Quast drophaulen"), beim Sortieren der passenden Scherenhälften vor dem Schleifen, beim Reinigen der Messer von Öl und Schleifstaub und beim Einpacken der Schneidwaren. So wuchsen die Söhne frühzeitig und selbstverständlich in den Beruf ihrer Väter und Großväter hinein - ob sie wollten oder nicht, und die Mädchen in den der Schleifersfrau wie ihre Mütter und Großmütter. Trotz aller Belastungen und Gefahren des Schleiferberufs war ihre Situation eine völlig andere als die der Fabrikkinder.


  Dampfschleifereien im Solinger Industriebezirk


Quellen:
  • Chronik (1983)
  • Gellert, Andrea: "... sind alles nur Kinder, welche Arbeiten." In: Landesverband Rheinland (1996)
  • Goebel/Voigt (2002)
  • Goebel, Klaus: Elf Stunden Nachtschicht für Kinder. In: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.): Neues Rheinland 5/1979, S. 12-15
  • Hocker (1867)
  • Huck/Reulecke (1978) (1984)
  • Rosenthal 2. Bd. (1972)
  • Sozialgeschichte (1987)
  • Stremmel (1991) / Spiritus (1823)
  • Voigt (o.J.)

Weitere Literaturhinweise zum Thema Kinderarbeit im Wuppertal, insbes. in Webereien:
  • Damaschke. Sabine: Zwischen Anpassung und Auflehnung. Die Lage der Wuppertaler Textilarbeiterschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde des Wuppertals, Band 35. Born-Verlag, Wuppertal 1992.
  • Goebel, Klaus / Voigt, Günther: Die kleine, mühselige Welt des jungen Hermann Enters. Erinnerungen eines Amerika-Auswanderers an das frühindustrielle Wuppertal. 5. Aufl., Born Verlag, Wuppertal 2002.


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