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Zur Kinderarbeit im 18./19. Jahrhundert
insbes. im Bergischen Land und im Rheinland



Erwachsen mit sieben Jahren?

Kaum zu glauben: Im 15. Jh. galt ein Kind im siebten Lebensjahr als weit genug entwickelt, um sich mit seiner Arbeitskraft den Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Entsprechend endete die Unterhaltspflicht von Findel- und Waisenhäusern mit dem siebten Lebensjahr des Kindes. [Chronik S. 288]

Auf dem Land arbeiteten Jungen und Mädchen "immer schon" frühzeitig mit, wie sie es auch heute tun. Sie hüteten das Vieh und verrichteten Arbeiten auf dem Hof, oder sie arbeiteten im Hausgewerbe der Eltern mit. Ob dies spielerisch und kindgemäß geschah oder ob es für die Kinder zur Qual wurde, hing von den Umständen ab, von ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten. Viele Kinder armer Familien mussten aber auch außerhalb des eigenen Haushalts zum spärlichen Familieneinkommen beitragen, arbeiteten bei fremden Bauern, Handwerkern oder Kaufleuten oder in fremden Haushalten.


Kinder

Grundlegende Veränderungen traten gegen Ende des 18. Jh. mit dem Beginn der Industrialisierung ein. Nun verlagerte sich die Erwerbstätigkeit von Kindern zu einem großen Teil in die Manufakturen und Fabriken und damit in eine Arbeitsumgebung, die ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung und ihre Gesundheit nachhaltig beeinträchtigte. "Wurde schon in der Manufakturepoche die Arbeitskraft des Kindes in der Produktion voll eingeplant, so erfolgte in den 1780er und 1790er Jahren ein entscheidender Umbruch, der die wesentliche Verschlechterung der Arbeits- und Gesundheitsbedingungen von Kinderarbeitern nach sich zog". [Huck/Reulecke 1984 S. 137]

Mit dem Gesundheitsschutz der Kinder stand es auch im Heim- und Hausgewerbe nicht zum Besten. Die Kinder, früh zur Arbeit und Ausbildung herangezogen, lernten nicht nur ihr Handwerk: "Sehr zu beklagen ist es, daß selbst Kinder in zarter Jugend zum Branntweintrinken Anleitung erhalten; es bringt indessen die Fabrik so mit sich: der Knabe, kaum noch zehn Jahre alt, wird schon zum Handwerke angeführt, muß bereits vor dem Schraubstocke stehen oder vor dem Schleifsteine sitzen und trinkt und raucht von diesem Zeitpunkte an mit seinen Vorgesetzten um die Wette." [Spiritus S. 162]




Zum Beispiel:
Kinderarbeit in der Textilfabrik Brügelmann in Ratingen-Cromford

1783/84 richtete Johann Gottfried Brügelmann in Ratingen eine wasserradgetriebene Baumwollspinnerei "nach englischer Art" ein. Diese Textilfabrik Cromford war die erste Fabrik auf dem europäischen Festland. Die "hohe Fabrik" wie auch das luxuriöse Herrenhaus sind heute Industriemuseum. Ein Besuch ist empfehlenswert: Die anschauliche Präsentation zeigt nicht nur die damalige Technik, sondern vermittelt auch Eindrücke von den Arbeitsbedingungen sowie den Unfall- und Gesundheitsgefahren in dieser Fabrik und vom Schicksal der vielen Kinder, die hier arbeiten mussten.


Cromford Mill
Mule-Spinnsaal
 

Drei Viertel der Belegschaft des Jahres 1797 (226 Personen) waren Mädchen und Jungen im Alter von sechs bis sechzehn Jahren. Oft arbeiteten Geschwister oder Väter mit ihren Kindern zusammen in der Fabrik. Von Anfang an setzte Brügelmann hauptsächlich Kinder ein. Er meinte damit auch etwas Gutes zu tun. In seinem Privilegiumsantrag von 1783 hatte er geschrieben, Stadt und Amt Ratingen würden aus der Spinnerei Vorteile ziehen, "in dem eine Menge armer Einwohner, und kleiner Kinder von 6-10 Jahren, welche ... gar zu häufig dem Müßiggang, und Bettelen nachgehen, ihren täglichen Unterhalt Verdienen, und dadurch von jugend an zur Arbeit und Fleiß angehalten werden". [HStAD Jülich-Berg II, Geheimer Rat, Nr. 1859. Zit bei Gellert S. 67] Diese Auffassung wurde damals von vielen geteilt.

Die wenigen zur Bedienung der neuen Spinnmaschinen nötigen Handgriffe konnten "kinderleicht" und schnell erlernt werden. "Die Kinder arbeiteten in allen Bereichen der Produktion. Sie halfen beim Öffnen und Reinigen der Baumwolle, reinigten die Maschinen - keine ungefährliche Arbeit, kehrten Abfall zusammen, trugen Körbe mit Vorgarn, wechselten die Spulen an den Maschinen aus und knüpften abgerissene Fäden an. Manche Maschinen konnten sogar von Kindern allein bedient werden." [Gellert S. 64]

Erst die zunehmende Mechanisierung und der Einsatz komplizierterer Maschinen, die teils mit erheblichem Kraftaufwand zu bedienen waren, bewirkte in Cromford in den 1830er Jahren in Verbindung mit ersten Schutzbestimmungen einen allmählichen Rückgang der Kinderarbeit.

   Notizen über Ratingen und Museum




"Verwendung" von Kindern in den Fabriken

Cromford war natürlich kein Einzelfall. Im Rheinland und Bergischen Land wurden besonders viele Kinder in der Textilindustrie eingesetzt. Ihre Arbeitskraft war billig, und so waren sie täglich 12 bis 14 Stunden und oft in zusätzlichen Nachtschichten vom sechsten Lebensjahr an der "Verwendung" durch die Unternehmer und deren Aufsichtspersonal ausgesetzt.

Damalige Beobachter scheinen dies keineswegs kritisch betrachtet zu haben. Sie sahen die mühelos wirkende Arbeit als sprudelnde Einkommensquelle für arme Familien sowie als geeignetes Mittel zur Disziplinierung an, "um die Armen- und Waisenkinder von der Straße des Bettelns, der drohenden sittlichen und religiösen Verwahrlosung abzubringen und vermeintlich kriminelle Veranlagungen zu unterdrücken." [Huck/Reulecke 1984 S. 138

Mag sein, dass die Arbeit in den Textilfabriken leichter war als z.B. in den Steinkohlebergwerken, wo die Kinderarbeiter ihr Leben unter Tage fristen mussten. Aber auch in den Arbeitshäusern waren die Kinder 14 Stunden am Tag eingesperrt, um immer gleiche monotone und einseitig belastende Handgriffe auszuführen. Dazu kamen oft lange Heimwege. Zeit und Kraft zum Kindsein, Spielen und Lernen und damit für die persönliche Entwicklung gab es nicht. Die Kinder waren von Anfang an auf ihre Rolle als einfachste Produktionsfaktoren reduziert, bis sie schließlich von "anderen" Maschinen abgelöst wurden. Sieht man gelegentlich auf alten Abbildungen die mit langen Stöcken ausgerüsteten Aufseher, so könnte man auf den Gedanken kommen, dass die ausgelaugten Kinder nicht allein durch Geld und gute Worte zur Arbeit motiviert wurden.

Wenn auch einzelne Kritiker die Zustände als problematisch erkannten und beanstandeten und insbesondere die fehlende Schulbildung der Kinderarbeiter beklagten, so fanden sie doch lange Zeit kein Gehör.




Aus zeitgenössischen Berichten und Kommentaren
über Kinderarbeit im Bergischen Land

Die von Gerhard Huck und Jürgen Reulecke herausgegebenen Bände über "Reisen im Bergischen Land" im Zeitraum 1750 bis 1910 sind eine faszinierende Fundgrube für zeitgenössische Beobachtungen zu allen denkbaren Lebensbereichen vor dem Hintergrund der Ende des 18. Jh. einsetzenden Industrialisierung. So auch zum Thema Kinderarbeit. Die kleine Auswahl der folgenden Zitate stammt im Wesentlichen aus dieser Sammlung von Reiseberichten.


Johann Christian Friedrich Bährens stellte 1793 fest, dass im Herzogthum Berg die Landjugend von den Schulbesuchen durch das Viehhüten abgehalten werde, "weil fast jeder Grundeigenthümer seinen eigenen Hirten hält und dazu seine Kinder gebraucht. Der Landjugend ist demnach zur Schule nur allein der Winter übrig und auch dann geht es langsam her, weil wegen der Entfernungen die Kinder bei Kälte und übler Witterung die Schule nicht besuchen können. Ein beträchtlicher Theil der Jugend nimmt außerdem noch Theil an den Manufakturen und Fabriken, und unterstützt die Eltern in ihrem Verdienst." [Huck/Reulecke 1984 S. 47]

Im Bericht eines anonymen Reisenden im Zeitraum 1763 bis 1793 über Elberfeld und Barmen (heute Wuppertal) heißt es:

"Das Abspulen des Garns in den Siamoisenfabriken, die Baumwollspinnereien nebst den Schnierriemenmaschinen beschäftigen eine Menge armer Kinder, wovon jedes, wenn es nur etwas fleißig ist, sich seinen Unterhalt selbst reichlich verschaffen kann. Man zeigte mir 3 Kinder von 9 bis 13 Jahren, die einem Vater gehörten, wovon das älteste täglich 9, das zweite 7, und das dritte 6 Stüber, mit Baumwollenspinnen auf Maschinen, verdiente. [...] Durch diesen Verdienst werden freilich viele Aeltern gereitzt, ihre Kinder mehr zur Arbeit, als zum Schulgehen anzuhalten. Indessen wurde es den Aeltern dieser Kinder mehr zum Ruhme nachgesagt, daß sie die beiden ältesten Knaben, jeden Nachmittag zwei Stunden in eine Schule schickten. Ebenso hat mir die Einrichtung bei einigen hiesigen Fabrikanten gefallen, die wöchentlich einige Stüber von dem verdienten Arbeitslohn der Kinder zurückbehalten, und den Kindern Hemde und andere Kleidungsstücke dafür anschaffen, wenn sie sehen, daß die Aeltern darin selbst zu nachläßig sind." [Huck/Reulecke 1978 S. 68]

Aus dem Jahr 1806 stammen die Eindrücke vom Besuch einiger Fabrikhäuser im Wuppertal, die August Hermann Niemeyer mit vorsichtig-kritischem Unterton schilderte:

"Uns gab besonders die unbeschreibliche Thätigkeit und Betriebsamkeit, zu welcher selbst die kleinsten Kinder, wär es auch nur zum Auflesen der Flocken, gewöhnt werden, zu manchen Betrachtungen Anlaß. Ein rechter Ameisenfleiß begegnet uns auf jedem Schritte. Man versicherte uns, daß Fünfjährige schon täglich einige Groschen verdienen könnten. Dabey war es doch schwer, sich des Gedankens zu erwehren, wie ganz unverhältnismäßig der Gewinn der reichen Inhaber dieser großen Arbeitshäuser, gegen den kärglichen Lohn derer sey, auf welche die Last der Arbeit liegt. [...]

Uebrigens wird in Elberfelde auch der Geist der Kinder nicht ganz vernachlässigt. Möchten nur alle Inhaber von Fabriken denken wie die Gebrüder Engels; errichteten sie nur wie diese neben ihren Fabrikhäusern noch Schulhäuser, in welchen ... für ihre Kinder durch Unterricht gesorgt, und der Gewinnsucht solcher Eltern, denen die Kinder nicht genug erwerben können, gesteuert würde."
[Huck/Reulecke 1984 S. 98]

Ganz anders klingt eine von französischen Beamten verfasste statistische Landesaufnahme des Großherzogtums Berg im Jahr 1809: "Die große Mehrzahl der Einwohner des Arrondissements Elberfeld [zu dem auch Solingen zählte] befindet sich in einer äußerst jämmerlichen Verfassung. Dieser Zustand der Degeneration ist wohl auf die Gewohnheit in dieser Gegend zurückzuführen, daß man zu früh die Kinder in den Fabriken arbeiten läßt. In großer Zahl in den Werkstätten zusammengepfercht, an eine sitzende Beschäftigung gefesselt, die sie zwingt, lange Zeit in gekrümmter Haltung zu verharren, kann sich ihr Körper nicht ausreichend entwickeln." [Huck/Reulecke 1978 S. 213]

Noch deutlicher wurde der Buchhändler Friedrich Perthes (1772-1843), der im Juni 1816 über seine Beobachtungen in Barmen und Elberfeld schrieb: "Vom achten, ja vom sechsten Jahre an arbeiten schon die Kinder, werden Krüppel und zeugen Krüppel".

Perthes nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund: "Elberfeld hat mir einen unheimlichen Eindruck hinterlassen; die Gegensätze auf diesem Menschenmarkte sind gar zu groß: kaufmännische Großhänse mit Schmerbäuchen und ausgearbeiteten Freßwerkzeugen, ausgehungertes Lumpengesindel, abgemagerte Gestalten mit Gesichtern, bleich von innerer sectiererischer Arbeit, und dabei Nachts auf den Straßen ein so roher Lärm liederlicher und betrunkener Menschen, wie mir selten vorgekommen ist." [Huck/Reulecke 1978 S. 216 f]

Kurz und knapp bemerkte der Amtsarzt des Kreises Solingen, Dr. Johann Wilhelm Spiritus, in seiner "medizinischen Topographie" von 1823: "Zu früh werden die Kinder zum schweren Handwerk herangezogen" und verwies auf Knochenschäden und Schwindsucht als deren Folge. [Spiritus/Stremmel S. 57]

1821 schrieb Carl Julius Weber voller Bewunderung über die Industrie des Bergischen Landes: "Ganz Berg ist nur Eine Fabrik, ..., und gewiß kommen vier Millionen Thaler jährlich ins Land, so nachtheilig auch die Revolution auf den Absatz gewirkt hat - hier ist das deutsche Manchester, Birmingham, Sheffield und Newcastle, wo wahrer Ameisenfleiß herrschet, und schon 5-6jährige Kinder ihr Brod verdienen." [Huck/Reulecke 1984 S. 118]

Völlig anders waren die Eindrücke von Adolf Diesterweg, die er bei Besuchen von Textilfabriken ("vom Staate gebilligte Menschenverkrüppelungsanstalten") im Wuppertal von der Belegschaft gewann und 1828 veröffentlichte. Diesterweg war später Abgeordneter im preußischen Landtag und Abgeordneter des Berliner Stadtrats.

"Welch ein Unterschied zwischen ihnen und unseren Bauern jenseits des Rheins in unseren fruchtbaren Ebenen! Wie unglücklich sind diese Menschen, die, um ihr Leben zu fristen, von früh bis spät in diesem glänzenden Elende ihre Tage zubringen und durch wechsellose, durch die Einförmigkeit ermüdende, markverzehrende Arbeit sich und die ihrigen kümmerlich ernähren müssen! [...] Vollends zerrissen hat mir das Herz der Anblick der Kinder, welche in diesen Fabriken um den Frühling ihres Lebens gebracht werden. Oh, rühmet mir nicht einseitig das Glück dieses Tales! Ich sehe hier nur allgemeinen Jammer und schleichendes Elend neben einigen scheinbar Glücklichen, welche sich durch das Blut der Armen, durch die Arbeit der Kinder bereichern. [...]

Anstatt daß unsere Bauernkinder unter Bäumen und Blumen aufleben, durch einfache Kost und frische Luft fröhlich aufwachsen, sich ergötzen an dem Gesange der Nachtigall und dem Getriller der Lerchen - hören diese Sklavenkinder nichts als das Geschnurr der Maschinen, an die sie vom 7. oder 8. Lebensjahre an geschmiedet werden, ihr Leben lang. Wie ist da an eine fröhliche Entfaltung des Leibes und des Geistes zu denken? Nein, diese Kinder verkrüppeln an Seele und Leib; dieses Tal ist nicht eine Stätte des Glücks, sondern eine Wohnung des menschlichen Elends und des irdischen Jammers."
[Huck/Reulecke 1984 S. 141]


Was denn nun - heile Fabrik-Welt mit ein paar kleinen Fehlern oder Jammertal? Tatsächlich war die Kinderarbeit zu dieser Zeit längst zu einem zentralen sozialen Problem des neuen Industriezeitalters geworden.



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