www . ZeitSpurenSuche . de

Die Solinger Lieferfrauen

Lieferfrau
1911   Lieferfrau mit Liewermang
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen
 

Die Geschichte der Solinger Heimarbeiterschaft ist auch die Geschichte der Lieferfrauen. Ihnen ist eine Dokumentation von Edeltraut Welling gewidmet, in der die Lieferfrauen oder deren Töchter selbst zu Wort kommen und aus dem Alltag "von früher" berichten. Lieferfrauen, die für die verbliebenen "selbstständigen" Schleifer und Reider die Waren zwischen den Werkstätten und den Schneidwarenfirmen transportierten, gab es noch bis vor wenigen Jahrzehnten.




Vor der Erschließung des Solinger Gebiets mit öffentlichen Verkehrsmitteln gingen die Lieferfrauen zu Fuß. In aller Regel waren es Familienangehörige, Ehefrauen oder Kinder der Handwerker.

Kleinere Messer und Scheren, wie Taschenmesser und Nagelscheren, trug man zu 12 oder 24 Dutzend (+ 6 Stück "Zuschuss") in kleinen Henkelkörbchen am Arm oder in Schultertaschen. Mittelgroße Messer und Scheren, z.B. Tafelmesser und Haushaltsscheren, wurden meist in großen runden Körben, den sogenannten Liewermangen, auf dem Kopf transportiert. Diese Körbe wogen um die 15 bis 25 Kilogramm. Der Korb stand auf einem Tragekissen.

Die Frauen aus den Wupperbergen legten die weitesten und beschwerlichsten Wege zurück und trugen auch die größten Lasten. Oft waren sie für einen Weg ein einhalb bis zwei Stunden unterwegs.


Lieferfrau
 
Lieferfrau mit einer Lieferung Schwerter.
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen

In Solingen-Mitte waren schon um 1900 die Straßen relativ gut ausgebaut. Hier waren Handwagen gebräuchliche Transportmittel.

Als öffentliche Verkehrsmittel aufkamen, wurde die Liewermang durch viereckige Henkelkörbe ersetzt, die am Arm getragen werden konnten und in der Straßenbahn nicht, wie die Liewermang, einen Groschen "extra" kostete. Allerdings gingen viele Lieferfrauen weiterhin große Strecken zu Fuß, weil die Wege zur Haltestelle weit waren, aber auch deshalb, weil sie sich das Fahrgeld nicht leisten konnten.

Bei den Reidern und Schleifern war es üblich, dass Frauen und Kinder neben der Liefertätigkeit auch Hilfsarbeiten in den Kotten übernahmen. Bei den Polierarbeiten Poliermasse auf die Bürstenscheibe streichen - das konnten auch die Kinder oder die jüngeren Geschwister.

Frauen waren nicht nur als Hilfskräfte, sondern auch als ausgebildete Fachkräfte tätig. Sowohl vor als auch nach dem 1. Weltkrieg gab es vereinzelt Frauen, die in den Schleifwerkstätten ihrer Väter als Schleiferinnen arbeiteten. Die typische Frauenarbeit in den Solinger Heimarbeiter-Familien war aber die Liefertätigkeit.


Lieferfrauen und Liefermann
 
Um 1935
Lieferfrauen und Liefermann
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen

1956 erschien ein Artikel über die Lieferfrauen im Solinger Tageblatt: "Nur die Wupper rauscht wie in früheren Zeiten", der bei Welling abgedruckt ist [S. 116 f].

"... Lewerfrau war im Grunde jede Solingerin, deren Familienangehörige mit Schneidwaren zu tun hatten. Täglich sah man sie auf den Straßen im Stadtbild und den Waldwegen ringsum, die zur Wupper führten. ... Die Lewerfrauen ... knüpften die Verbindungen zwischen den Kotten und den Fabrikanten, oft kannten die Schleifer lange Jahre ihre Arbeitgeber nicht. ... 14 Jahre oder sogar erst 13 waren die Mädchen alt, wenn sie zum ersten Mal den Korb auf den Kopf nahmen. ... Es mag um die Mitte der zwanziger Jahre gewesen sein, als sich die Lieferfrauen langsam aus dem Stadtbild verloren. ..."


Die Kleidung der Lieferfrauen war überall nahezu gleich: Knöchellanges Kleid aus bedrucktem Stoff, nachtblau und weiß gestreift, am Hals hoch geschlossen, vorn einfach geknöpft, keinerlei überflüssige Falten. ... Von der Hüfte abwärts eine ebenfalls dunkel und hell gestreifte Schürze, sehr lang bis zu den fast kniehohen, schwarzen Schnürschuhen mit den fünf bis sechs Zentimeter hohen oder auch flachen Absätzen. Bei Regenwetter und schmutzigen Wegen wurden Kleid und Schürze mit einem Gummiband, das um die Hüften lag, vielleicht 15 oder 20 Zentimeter angehoben.


Tragering
 
2008
Tragering, auch "Pölf" genannt,
ausgestellt im Rheinischen
Industriemuseum in Solingen-Merscheid

Um den Kopf trug man ein Tuch in zarten Farben... Immer war es unterm Kinn geknotet, nur an wirklich heißen Tagen flatterte es frei auf die Schultern herab. Auf dem Kopf der Tragering aus starkem, doch biegsamen Stoff, mit Kapok gefüllt und außen mit bunten Glasperlen bestickt. Vorn - auch aus Glasperlen - die Jahreszahl des Winters, in dem er genäht wurde, darüber das Monogramm der Besitzerin. In der Mitte hatte der Ring ein durchgehendes Loch, daß er sich unter der Last der Messer gut um den Kopf schmiegen konnte.

Seine Maße: Durchmesser 22-28 Zentimeter, Höhe etwa 12 Zentimeter, Gewicht 600-700 Gramm. Obenauf stand der Korb. Er hatte vier Henkel, je zwei am oberen Rand und etwa in der Mitte der Außenflächen. Seine Höhe betrug 30 Zentimeter, der untere Durchmesser etwa 33, der obere 40 Zentimeter. 250 bis 300 Randkropf-Messer mittlerer Größe paßten hinein, sie wogen 30 bis 40 Pfund, manchmal noch mehr.


Albert Hendschel
 
"Kunststück".
Zeichnung von Albert Hendschel (1834-1883).

Der Frankfurter Künstler hat hier wahrscheinlich
keine Solinger Lieferfrau dargestellt,
wenn es auch ganz danach aussieht - aber
ihre Probleme dürften dieselben gewesen sein.

Die von den Männern benutzten Körbe waren größer. Sie maßen 1,20 Meter mal 40 Zentimeter bei einer Randhöhe von etwa 25 Zentimetern. Die langen Schwerter aber wurden gebündelt auf die Schulter genommen...

Besonders an Regentagen mußten sich die Lewerfrauen sputen: Der fertig bearbeitete Stahl konnte durch allzulange Feuchtigkeitseinwirkung Schaden nehmen. Die Klingen wurden damals nicht einzeln in Oelpapier gewickelt, sondern im Korb nur schichtweise durch Papierlagen voneinander getrennt. Zuoberst aber deckte sie ein Tuch beliebiger Farbe - auch meist dunkler Textur - ab.

Witwen oder alleinstehende Frauen betrieben das Tragen manchmal berufsmäßig. Für einen Weg von Balkhausen zum Schlagbaum zum Beispiel - ein Stundenmarsch etwa - erhielten sie 60 Pfennige, lag das Ziel an der Foche, sogar 80 Pfennige. Damals - vor dem ersten Weltkrieg - kostete ein Viertelpfund Brot 50-60 Pfennige, ein Pfund Butter 80 Pfennige, ein Zentner Kartoffeln etwa zwei Mark. ...


Lieferfrau-Denkmal
 
2002
Lieferfrau-Denkmal
am Fronhof in Solingen
von Erlefried Hoppe (1910 - 1992),
aufgestellt Ende der 1950er Jahre

Mußten sie wirklich einmal ohne schwarze Ware zum Kotten heimkehren, beschwerten sie die Körbe mit Steinen, ohne Last war ein schlechtes Balancieren."

Brachten sie aber schwarze Ware mit nach Hause, so bedeutete das nicht nur Weiterbeschäftigung des Vaters oder Ehemannes, sondern auch Bestätigung für eine qualifizierte Handarbeit. "So war der Stolz der Lieferfrauen auf ihre eigene Leistung gemischt mit dem Stolz auf die Leistung des Heimarbeiters." [Welling 1990]


Herder und Henckels
 
2002
Die Fabriken Herder
(heute Technologiezentrum)
und Henckels (Zwillingswerk)
in Solingen,
Grünewalder Sraße

  Einen ganz anderen Aspekt zur Geschichte der Lieferfrauen fand ich zufällig in der Artikelserie "Nebelbilder aus Solingen" von Peter Knecht aus dem Jahr 1845, in denen der Autor das Warenzahlen anprangert, hier nachzulesen in anderem Zusammenhang.




Hans-Georg Wenke bringt Leben und Leistung der Solinger "Liewerfrauen" mit deutlichen Worten auf den Punkt:

"Sie wird als stille bescheidene Dienerin dargestellt und ist in Wirklichkeit eine Heldin. 'Die' Solinger Liewerfrau, die Ehefrau eines Heimarbeiters. Sie trug 'en Jedrag', ein 'Getrag' Halb- oder Fertigwaren vom Kotten an einem Bach oder der Wupper den Berg hinauf zu den Kontoren der Fabrikanten, die die Arbeit vergaben und wieder abkauften und brachte neue Rohware auf dem Rückweg mit. Straßen gab es über Jahrhunderte keine, bei Regen (Schlamm) und Schnee (Glätte) musste gelaufen werden.

Und zu Hause warteten so einfache und lustbringende Pflichten wie täglich zweimal warmes Essen kochen, wöchentlich Wäsche kochen und wringen, zwischendurch Kinder gebären und täglich versorgen, den Garten in Schuss halten, Kleidung nähen und Wäsche stopfen, freitags "den Dürpel schrubben", sonntags artig in die Kirche gehen und nachmittags Verwandten bewirten, Pfingsten alles für die Familienwanderung parat halten, die Großeltern pflegen, den kranken oder besoffenen Mann umtüddeln - und notfalls im Kotten selbst zur Arbeiterin zu werden.

[...] Dass der starken und geduldigen Frauen nicht in dem Maße gedacht wird wie den 'Helden' an Schleifstein und Esse, ist geradezu tragisch. Nur ein stilles Denkmal, das ist zu wenig."

  solingen-internet: "Liewerfrau"



Quelle:
  • Welling (1990)

nach oben

www.zeitspurensuche.de
Copyright © 2002-2008 Marina Alice Mutz. Alle Rechte vorbehalten.