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Über das Kostgänger(un)wesen   (19. / Anfang 20. Jh.)

In alten Solinger Zeitungen stößt man immer wieder auf Angebote von Haus- und Wohnungsbesitzern, die Zimmer ("Kost und Logis") an "ordentliche, saubere Personen" günstig vermieten oder untervermieten wollten. Wer aber nur über wenig Geld verfügte und eine Unterkunft in der Stadt benötigte, der hatte sich oft mit einem Schlafplatz in einem engen, stickigen Zimmer zu begnügen, das er auch noch mit anderen Leidensgenossen teilen musste. Und nicht immer waren die beteiligten Personen seriös, ordentlich und sauber. Denn sonst hätte man ja nicht die Ordnungsbehörden wegen unhaltbarer Zustände zu Hilfe rufen müssen.

"»In der Malteserstraße wohnt eine Familie, welche in einem kleinen, engen Zimmer sechs Kostgänger untergebracht hat. Das Zimmer ist so eng, daß einer über den anderen hinwegklettern muß, um an die Tür heranzukommen. Nachts wird geschrien und spektakelt: ,Mich beißen die Flöhe!' Der andere schreit: ,Ich geh in die Bohnen schlafen!' Wieder ein anderer ruft: ,Mir stinkt's zu arg!' ...«

Dieses anschauliche tragikomische Bild von der Unterbringung der sogenannten 'Kostgänger' brachte man dem Solinger Oberbürgermeister Dicke um die Jahrhundertwende zur Kenntnis."
[H.W.]


So beginnt ein Artikel, der 1972 in der Zeitschrift Die Heimat erschienen ist. Die angegebenen Initialen lassen als Autor den Solinger Lokalhistoriker Herbert Weber vermuten. Er vermittelt einen Eindruck von den Lebensverhältnissen in der Solinger Altstadt, dem Stadtzentrum der guten alten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (1914-1918).

"Das Kostgängerwesen war damals in Solingen sehr stark verbreitet. Viele Arbeiter von auswärts zog es in die Stadt, und Wohnungen waren nicht genügend vorhanden. In Solingen gab es im Jahre 1899 1498 Familien, die zusammen 2749 Kost- und Quartiergänger beherbergten. Davon waren 2423 Männer und 326 Frauen. Allein auf der Kaiserstraße, der heutigen Hauptstraße, gab es 401 Kostgänger, die von 194 Familien untergebracht und beköstigt wurden. Man betrachtete die Kostgänger allgemein als gute Nebenverdienstmöglichkeit, und so wundert es nicht, daß in manchen Häusern solche Zustände herrschten wie eingangs erwähnt." [H.W.]


Wie lange hielten die oft schwer arbeitenden Kostgänger diese Situation unbeschadet aus? Auch für die Quartiergeber dürfte die herrschende Enge nicht vergnüglich gewesen sein. Von "Wohnen" und Privatsphäre konnte nicht die Rede sein. Wie sahen die Räume aus? Wie die sanitären Einrichtungen, die Hygiene? Fiel die Verpflegung qualitativ ähnlich aus wie die Unterkunft?

Um die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden, wurde am 11. Juli 1887 eine Polizeiverordnung erlassen. Sie betraf alle diejenigen, die anderen Personen - es werden zum größten Teil Arbeiter der umliegenden Stahlwarenfabriken gewesen sein - gegen Entgelt Kost und Logis gewährten. In der Verordnung wurde festgelegt, dass Schlafräume der Kost- oder Quartiergänger nicht durch eine aufschließbare Tür mit den Räumen der Quartiergeber verbunden sein durften. Vorhandene Türen mußten unbenutzbar gemacht werden. Die Räume mussten ein Fenster aufweisen. Für jede Person sollten 10 Kubikmeter Luftraum zur Verfügung stehen.

Mancher geschäftstüchtige Vermieter ist auf die Idee gekommen, die vorhandenen Bettstellen schichtweise an Tagschicht- und Nachtschichtarbeiter zu vermieten, so dass z.B. vier Personen in zwei Betten schliefen, die einen tagsüber, die anderen nachts. Dieses "Schichtvermieten" wurde verboten.

Auch musste die Sittlichkeit gewährleistet sein: "Die polizeiliche Erlaubnis des § 2 zum gleichzeitigen Halten von Kost- oder Quartiergängern verschiedenen Geschlechts ist nur auf Widerruf und außerdem nur dann zu gestatten, wenn die Persönlichkeit des Quartiergebers und seiner sämtlichen Haushaltsangehörigen die vollste Bürgschaft eines streng sittlichen Verhaltens bietet." Wie auch immer dies nachzuweisen war.

Die Kost- und Quartiergänger waren in einem Verzeichnis der Ortspolizeibehörde zu registrieren. Einmal im Jahr musste der Vermieter - tagsüber - mit einer Revision bzw. Konrolle der Unterkünfte rechnen. Dennoch gab es auch in der Folgezeit viele Beanstandungen.


Solingen Kaiserstraße
 
Um 1914
Untere Kaiserstraße (heute Hauptstraße)
im Zentrum Solingens
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen

"So lebten in einem Zimmer von 18 Kubikmeter Luftraum ein Kostgänger und fünf Kinder der vermietenden Familie. In einem Zimmer mit nur 9 Kubikmeter war überdies kein Fenster vorhanden. Drei Kostgänger lebten in einem Zimmer von 17 Kubikmeter. Eine siebenköpfige Familie bewohnte mit einem Kostgänger zwei Zimmer. Alles schlief zusammen in. einem Zimmer. Bei einer neunköpfigen Familie auf der Florastraße schliefen außerdem noch 13 Kostgänger. Sie lebten in zwei Zimmern.

Eine Anzeige vom 24. Februar 1895:

»Der Korbmacher Julius R., Clauberg wohnend, hält fortwährend Leute auf, welche sich nicht legimitieren können, obschon er selbst für Frau und Kind keinen Platz hat. Jetzt hält derselbe einen gewissen Rotwälder auf, der die meiste Zeit von seiner Frau laufen geht. Derselbe ist jetzt schon acht Tage beim R. und geht für ihn alte Körbe und Stühle zusammen tragen. Ich möchte ergebenst bitten, zu sorgen, daß diese Bude öfters revidiert wird...«

Am 1. Mai 1897 bezog ein Ehepaar mit drei Kindern und 16 Kostgängern ein Haus in der Malteserstraße. Die Wohnung bestand aus sechs Zimmern, davon vier Schlafzimmern. Die Kostgänger wohnten in zwei Mansarden von 34 und 26 cbm Rauminhalt.

Der Polizei wurde gemeldet, schon zwei Tage nach dem Einzug habe es bis nachts um eins großen Spektakel gegeben. Kostgeber und -gänger hatten sich blutige Köpfe geschlagen. »Es wurde die Treppen herauf- und heruntergelaufen und -gebrüllt und gerufen.« Viele der Kostgänger seien daraufhin ausgezogen, aber neue dazugekommen. Eine Unmenge Flaschenbier werde täglich angeliefert, immer mehrere Kisten mit 50 bis 60 Flaschen."

[H.W.]


Einzelfälle? Sicher nicht, denn dann hätte man auf eine "Verordnung" verzichten können. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschwand das Quartiergängerwesen allmählich und lebte in der bisherigen Form auch nicht mehr auf.



Quelle:
  • Die Heimat 1/1972, S. 3 (H.W.) [Herbert Weber]

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